: Der Gorbatschow von Vietnam
Er war der Michail Gorbatschow Vietnams. Vo Van Kiet, 1991 bis 1997 Premierminister und nach seinem Rücktritt einer der schärfsten Kritiker der Regierung, ist gestern im Alter von 85 Jahren gestorben. Vo Van Kiet war nach Ho Chi Minh der zweitwichtigste Politiker Vietnams und hat das Land von oben reformiert.
Er wurde 1922 bei Saigon in bäuerlichen Verhältnissen geboren und trat 1939 der Kommunistischen Partei bei. Er kämpfte im ersten Indochinakrieg gegen Frankreich und später gegen die USA. Nach dem Vietnamkrieg wurde er 1976 Vizeparteisekretär von Ho-Chi-Minh-Stadt, dem früheren Saigon. Vo Van Kiet widersetzte sich Weisungen aus Hanoi, die gesamte Wirtschaft zu verstaatlichen. Er hatte erkannt, dass das Land ohne die kleine Privatwirtschaft nicht auf die Beine kommen würde. Als langjähriger Kampfgefährte des Revolutionshelden Ho Chi Minh ließ man ihn gewähren, was schließlich auch zu wirtschaftlichen Erfolgen führte. So wurde Vo Van Kiet 1986 zu einem Architekten von „doi moi“, der vietnamesischen Variante der Perestroika. Das Land begann sich wirtschaftlich zu öffnen und löste sich schrittweise von der zentralistischen Planwirtschaft. In seiner Amtszeit als Premierminister ab 1991 begann Vietnams Wirtschaftsboom, der bis heute anhält, sowie die Aussöhnung mit dem einstigen Kriegsgegner USA. 1995 nahmen beide Staaten diplomatische Beziehungen auf.
Fast noch größere Berühmtheit erlangte Vo Van Kiet nach seinem Rückzug aus der aktiven Politik. So forderte er 2004 eine Demokratisierung und Entmachtung des Geheimdienstes Cuc Hai. Mit anderen Vertretern seiner Generation, die als alte Kämpfer Narrenfreiheit hatten, veröffentlichte er Dokumente über die unheilvolle Rolle des Geheimdienstes in Kambodscha, wo Vietnam in den 80er-Jahren Truppen stationiert hatte. Dort sollen Geständnisse, die zu Todesurteilen führten, unter Folter erzwungen worden sein.
Vor dem Parteitag 2006 mahnte Vo Van Kiet in Zeitungsartikeln weitere Reformen, eine weniger enge Anbindung an China, eine nationale Umweltpolitik und mehr innerparteiliche Demokratie an. Damit löste er ein „Tauwetter“ aus. Auch andere Reformer im Parteiapparat nutzten die zeitweilige Meinungsfreiheit, um Debatten voranzutreiben. Doch auf dem Parteitag 2006 setzten sich die Betonköpfe durch. Mit dem Tauwetter war es vorbei. Seitdem konnte man den kritischen Geist Vo Van Kiet nur noch bei BBC und anderen internationalen Medien lesen und hören. In Vietnams Medien verstummte seine Stimme. Sein Tod war den meisten vietnamesischen Zeitungen keine Zeile mehr wert. MARINA MAI