: Friedliche Koexistenz in Bohmte
Eine niedersächsische Kleinstadt geht voran: Schluss mit der demütigenden Unterwerfung unter das Automobil. Ab heute verständigen sich die Verkehrsteilnehmer in Bohmte eigenständig – ohne Verkehrsschilder
Das Shared Space Konzept stammt aus den 1980er-Jahren. Aber erst, als es zum EU-geförderten Interregio-Projekt erklärt wurde, erhielt es weltweit Aufmerksamkeit: Neben Bohmte profitierten die niederländischen Gemeinden Emmen und Haren sowie der so genannte Sroobossertrekweg durch die Provinz Friesland, Ejby im dänischen Bramsnæs, der Landkreis Suffolk in England sowie Oostende in Belgien von den Zuschüssen. Zuvor hatte es der 1945 in Leeuwarden geborene Verkehrsplaner Hans Monderman in mehr als 100 Gemeinden Frieslands ausprobiert, nach eigenen Angaben „immer mit Erfolg“. In den letzten Jahren war er als Referent weltweit unterwegs. Er starb, überraschend, am 7. Januar 2008. TAZ
AUS BOHMTE BENNO SCHIRRMEISTER
Wenn Pöttering kommt, wird in Bohmte eine Bühne aufgebaut sein, auf dem Parkplatz von Modehaus Brörmann, direkt an der Kreuzung Leverner-/Bremer Straße, um die es ja schließlich geht. Bier, Limo, Selters werden fließen, heute ab 15 Uhr. Bürgermerister Klaus Godejohann wird, unterbrochen von pfeifenden Rückkoppelungen der Mikrofonanlage, eine Rede halten, die mit den Worten beginnt, „liebe Bürgerinnen und Bürger, sehr geehrter Herr Präsident des Europaparlaments“ oder so ähnlich, denn in dieser Funktion besucht Hans-Gert Pöttering ja das Örtchen im Osnabrücker Land. Und Wilhelm Wellner wird das Tor zu seinem Gehöft geschlossen haben.
Der Hof – großes Bauernhaus, zwei Wirtschaftsgebäude, altes Fachwerk, die Jahreszahl 1785 ist in den Zierbalken geschnitzt, und, tatsächlich, auch schon der Name Wellner – liegt ebenfalls an der Bremer Straße, etwas bergab, da, wo es zu Feuerwehrhaus und Bahnhof runtergeht, und der Inhaber hat „persönlich nichts“ gegen Pöttering. Das Tor macht er trotzdem zu. „Wegen der japanischen Zwerghühner“, sagt er, die züchtet Wellner nämlich. Nanu? „Wenn das ganze fremde Volk kommt, dann schleppen die mir nachher noch die Vogelgrippe ein“, sagt er, beugt sich auf seine Schaufel, „und was dann?“ Wellner schaut extra-dramatisch. Er grient. „Man muss“, sagt er, „das Ganze humoristisch nehmen“.
Fremdes Volk kommt allerdings seit zwei Jahren wirklich oft nach Bohmte. Die 10.000-Seelen-Gemeinde hat nämlich ihre zentrale Kreuzung städtebaulich neu gefasst. Sie ist jetzt ein Kreisverkehr und, genau wie Teilstücke der einmündenden Straßen, rot aufgepflastert.
Der Umbau hat seit 2006 weit über hundert Medienberichte ausgelöst, in Tageszeitungen, lokal, regional, international, in Nachrichtenmagazinen, im öffentlich-rechtlichen Radio und im privaten TV. Im Ort gesichtet wurden sogar russische und, kein Witz, japanische Kamerateams, nächstes Wochenende findet eine Fachtagung mit Urbanisten aus ganz Deutschland statt. Und nun kommt Pöttering zur feierlichen Einweihung. Schließlich hat die EU kräftig mitfinanziert: Insgesamt schlägt die Maßnahme mit 2,3 Millionen Euro zu Buche. Fast die Hälfte kommt aus Brüssel, wegen Shared Space, und das findet selbst Wellner ganz gut, obwohl er als Landwirt so seine eigenen Erfahrungen mit der EU gemacht hat.
Shared Space ist ein Verkehrskonzept, es soll Durchfahrtsgeschwindigkeit und Unfallraten senken. In Hamburg St. Georg will man Bohmte nacheifern, und auch die Berliner Grünen wollen sich Anregung aus der niedersächsischen Provinz holen. Dabei ist Bohmte nicht die erste deutsche Gemeinde, die das Konzept umsetzt. Aber es ist die erste, bei der es so heißt und die europäische Förderung dafür erhält.
„Das Ziel ist“, so hatte es der kürzlich verstorbene Shared Space-Erfinder Hans Monderman der taz einmal erklärt, „Bohmte ist Bohmte und sieht auch so aus wie Bohmte.“ Klingt einfach. Und ist baulich auch wirklich unspektakulär: Man hat die Gehsteige abgeflacht, Sichthecken beseitigt, die Straße großflächig und einheitlich in Ziegelrot aufgepflastert: Die Kreuzung wirkt jetzt wie ein Dorfplatz, bloß hat der keinen Namen. Und dann hat man noch die Ampelanlage und sämtliche Verkehrsschilder abgebaut.
Letzteres ist Haupt-Ursache des Medien-Hypes, das sieht man an den Überschriften: „Die Axt im Schilderwald“, hieß eine, „Der Fall der Ampeln“ eine andere und selbst den dümmsten Redakteuren fällt etwas von Schildbürgern ein. So starke Gefühle löst das offenbar nur in Deutschland aus: Unter demselben Titel fließen EU-Gelder beispielsweise nach Oostende in Belgien, nach Suffolk im United Kingdom und auch Ejby auf Seeland in Dänemark hübscht seine Ortdurchfahrt auf. Aber dort, so hat der Wuppertaler Verkehrs-Prof Jürgen Gerlach beobachtet, „empfindet man das nicht als so faszinierend.“ In Deutschland hingegen wollten „die Leute alles geregelt haben – und dann kommt einer und sagt, das brauchen wir nicht“. Was eben für Aufsehen sorgt. Und für Befürchtungen.
„Anfangs“, sagt Hubertus Brörmann vom Modehaus Brörmann, direkt an der berühmten Kreuzung, „war ich ja auch skeptisch.“ Davon ist jetzt nichts mehr zu spüren. Im Gegenteil, jetzt ist er stolz. Dass man gemeinsam nach Hannover gefahren ist und das Verkehrsministerium freundlich stimmen konnte. Und dass es klappt. Vor vier Wochen war Verkehrsfreigabe. Gut, manche sparen sich den Bogen und fahren gerade weiter. Ein Laster brettert von Levern runter in den Kreisverkehr und nimmt einem Auto, das von rechts kommt, die Vorfahrt.
Unfälle aber gab es bisher nicht. Der Verkehr fließt, es gibt keinen Rückstau, wie früher, als die Ampeln noch hier standen. Die Zahl der Laster, einst waren es 1.000 täglich, scheint zurückgegangen. Und irgendwie fahren alle langsamer. Tasten sich vor. Sind verunsichert. Schauen sich um.
Brörmann war bei den Planungen von Anfang an dabei, „schließlich haben wir ja unseren Laden direkt dran“, sagt er, „wenn die Straße nicht zu gebrauchen ist, dann haben wir ein Problem.“ Es gab große Workshops für alle Bürger. Die Shared-Space-Idee hat man sich als eine unter anderen angeschaut. Mit Feuer spricht der Unternehmer, drahtig, kurze Haare, davon, dass „man sich erst einmal klar machen“ müsse, „dass die Straße nicht den Autofahrern alleine gehört“, dass ja im Gegenteil „Fußgänger und Radfahrer in der Mehrheit“ seien – „und warum soll sich die Mehrheit der Minderheit unterordnen?“ Dabei, schiebt er nach, ist er ja selbst Autofahrer. Aber es sind Hans Mondermans radikale Gedanken, die ihn erfasst haben. „Überzeugt hat mich“, sagt Brörmann, „der Besuch in Friesland.“
Dort, im Dorf Oudekaste, hatte Monderman seine Idee entwickelt und erstmals erprobt, Anfang der 1980er Jahre war das, „und“, so hat er das einmal erzählt, „mir fiel einfach nichts mehr ein“. Der Verkehr wuchs. Die Zahl der Schilder auch. Die Unfallzahlen stiegen.
Er, Verkehrsingenieur in Diensten der Provinzverwaltung, hatte den Auftrag daran etwas zu ändern. Aber wie? Er setzte auf Verunsicherung. Den Zentralplatz: Schwer einsehbar. Die Trennung zwischen Fuß- und Fahrweg – verunklart. Es hagelte Beschwerden. Monderman drohte die Strafversetzung. Bis er empirische Daten vorlegen konnte: Die Durchschnittsgeschwindigkeit war rapide gesunken. Die Unfallzahlen auch. Von Strafversetzung war nicht mehr die Rede. „Monderman wollte allen Verkehrsteilnehmer ihre soziale Kompetenz wiedergeben“, heißt es in einem Nachruf, der in einem Appell zur „Abrüstung“ und „friedlichen Koexistenz“ im Straßenverkehr mündet. „Damit die Rückeroberung des öffentlichen Raums für die Menschen gelingen kann.“
Nicht der ganze Ort ist umgestaltet. Das wäre womöglich auch gar nicht gut. „Man fährt“, sagt Gerlach, der zu Shared Space forscht, „nicht lange Zeit langsam.“ Er warnt vor unkritischer Begeisterung. Tatsächlich gibt es neuralgische Punkte. So ist zum Beispiel nicht unproblematisch, dass Shared Space die Kommunikation der Verkehrsteilnehmer durch Blickkontakt groß schreibt. Wenigstens vertritt der Deutsche Verein der Blinden und Sehbehinderten diese Auffassung. Bei Befragungen an manchen Standorten hat Gerlach festgestellt, „dass viele Personen Schwierigkeiten beim Überqueren hatten“. Insbesondere ältere. Mitunter seien bei realisierten Projekten nachträglich Überwege eingerichtet worden. „Das kann ein Hinweis auf Überforderung mancher Fußgänger sein“.
Klar: 100 Jahre demütige Unterwerfung unter die Macht des Automobils, das sitzt tief. Nicht jeder schafft es da keck erhobenen Hauptes auf den Fahrweg zu treten. Oder gar, Monderman hat das mal einem Fernsehteam vorgeführt, ganz ohne zu gucken. Rückwärts. Brörmann hat den Film auch gesehen. „Wenn das nicht beeindruckend ist“, sagt er, „dann weiß ich’s auch nicht.“
Auch Wilhelm Wellner findet nicht, dass alles schlecht ist. Aber er hat durchaus ein Auge dafür, was alles schlecht ist. Da ist zum Beispiel die Straßenlaterne. „Das war auch anders geplant“, sagt er, bei den Einwohnerversammlungen war er ja auch dabei. Und jetzt steht sie so dicht an der Hof-Ausfahrt, dass er mit Traktor und Hänger nicht mehr rechts abbiegen kann. Und dem Nachbarn „scheint sie direkt ins Schlafzimmer“. Das allerdings ist keine Frage des Konzepts. Sondern der Realisierung. Genau wie bei Wellner selbst. Ob er heute zum Dorffest geht, da ist er sich noch nicht ganz sicher. Überlegt hat er’s.