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Archiv-Artikel

Jugendliche Türkei

Rasante Schnappschüsse des Schreckens: Die Biennale Bonn interessiert sich dieses Jahr für das zeitgenössische Kulturschaffen am Bosporus, mit dem das Land längst in Europa angekommen ist

VON DOROTHEA MARCUS

„Die Türkei reagiert auf Kritik an ihrem Staat reizbarer als andere Länder – jede Kritik wird als Angriff auf die Nation gewertet“, erzählt der Schriftsteller und Unesco-Botschafter, Sänger und Komponist Zülfü Livaneli bei Eröffnung der Bonner Biennale, bei der sich rund 20 Tanz- und Theaterstücke, Vorträge und Kunstausstellungen um das Thema „Bosporus“ drehen, passend zur Frankfurter Buchmesse, deren Gastland die Türkei im Oktober sein wird.

Livaneli leitet die Unfähigkeit zur Selbstbefragung seines „geliebten und leidgeprüften Landes“ von der Jugend der Türkei ab, die sich bei ihrer Gründung 1924 erst vom ehemaligen Osmanischen Reich abgrenzen und ihr Nationalgefühl gewaltsam definieren musste. Seitdem, sagt er, glichen die Türken Passagieren, die nach Westen liefen auf einem Schiff, das nach Osten fahre. In einem Land, das sich „seiner Identität noch nicht sicher sei“, blieben zuweilen sogar Verbrechen ungesühnt, weil ihre Ahndung als „staatszersetzend“ gelten könne.

Nach diesen Sätzen muss man abends im Theater staunen. „In der Türkei gibt es keine Gerechtigkeit“, ruft ein Professor aus, der bei einer Talkshow eingeladen ist, die die Klammer von „Seelenfeld“ (Can Tarlasi) bildet.

Das Stück besteht aus elf grotesken und bitteren Szenen, knapp wie Stammtischwitze, deren Komik schaurig im Hals stecken bleibt. Eine Schriftstellerin ist im Gefängnis und diskutiert mit ihren Aufsehern über Religion und Staat, man wirft ihr vor, dass sie ihr Land nicht liebt – da trifft sie der Schuss. „Was hast du getan? Wir haben uns doch so schön unterhalten!“, schimpft der eine Wärter den anderen aus. „Hör auf zu weinen, sonst kann ich nicht abdrücken“, weint da ein Bruder, bevor er seine vergewaltigte Schwester erschießt.

Im Hintergrund der Szenen glüht ein projizierter Revolver blutrot an der Wand, manchmal wird eine Szene von den Schauspielern im Schnelldurchlauf „zurückgespult“ – wie um daran zu erinnern, wie winzig die Geste ist, die eine Szene so tragisch unwiderruflich – oder ungeschehen macht.

Mehrere Jahre lang hat der Autor und Regisseur Kemal Kocatürk die „furchtbar langweiligen“ Gewaltmeldungen der türkischen Panoramaseiten gesammelt und zu einem Stück montiert, in dem sich Ehrenmorde, goldene Heroinschüsse, Akte der Selbstjustiz und Eifersuchtsdramen abwechseln.

Als er die Meldungen sammelte, war „es in der Türkei lebensgefährlich, auf die Straße zu gehen“ – denn Lynchjustiz war an der Tagesordnung. Zum Schluss münden die Schnappschüsse des Schreckens in der erwähnten „Charisma-Show“, die das Vorangegangene zum Film erklärt und die Absurdität der Medienwelt auf die Spitze treibt. Zu Gast sind Karikaturen von türkischen Stars, ein Regisseur erzählt eitel von seinem neuen Film, der Schreckensmeldungen verfilmt, eine Schauspielerin streckt ihre Brust heraus, rollt mit den Augen und haucht „ja“.

„In diesem Land vergeht keine Minute ohne ein Verbrechen“, sagt der Moderator launig und reißerisch. Eine beeindruckende Satire darüber, wie Gewalt zum Modethema und im Fernsehen seicht analysiert wird, inszeniert wie eine rasante Boulevardkomödie, von den Schauspielern souverän, situationskomisch und bodenständig gespielt.

„Ich lebe in einem Land, in dem es besonders sinnvoll ist, Theater zu machen“, sagt Kocatürk bei der Podiumsdiskussion. Erst vor einem Jahr hat er sein Istanbuler Volkstheater (Istanbul Halk Tiyatrosu) gegründet, das ohne staatliche Hilfe auskommt und von einem reichen Freund finanziert wird. „Seelenfeld“ ist ihr erstes Gastspiel im Ausland. Kocatürks vier Schauspieler waren vorher fest am Stadttheater engagiert oder sind, wie etwa Levent Üzümcü, bekannte Serienstars, denn die rund 900 Euro, die ein Schauspieler im Ensemble verdient, reichen nicht zum Leben.

Ohnehin hätten sie „Seelenfeld“ im Stadttheater wohl nicht spielen können: „Wir benutzen die Sprache der Straße, das wäre zu hart für das Stadttheater, man würde sagen, dass es den Schülern schaden könnte“, erzählen sie. „Es gibt kein anderes Land auf der Welt, in dem Menschen leben, die gleichzeitig 500 Jahre voneinander entfernt sind“, sagt Üzümcü und beklagt, dass die Türkei in den letzten fünf Jahren einen konservativen Rollback erlebt.

Umso erstaunlicher ist das Stück „Feuergebet“, geschrieben und inszeniert von Berkun Oya, der auch mitspielt: eine Frau, ein Mann und eine Art Transvestit sind in einer unseligen Ménage-à-trois aneinander gefesselt, in einem verlorenen Plexiglaskubus der Zukunft, der spektakulär seine Farbe wechselt. Sie sind 2.000 Jahre alte, übrig gebliebene Unsterbliche, sitzen im Rollstuhl und ihre Haare stehen zu Berge, weil die Schwerkraft nicht funktioniert. Während sie auf einen Untergang warten, der nie kommen wird, verwickeln sie sich in müde Streitereien und Beschimpfungen. Eine Metapher für ein Istanbuler Lebensgefühl?

„Feuergebet“ läuft seit vier Jahren im dortigen Staatstheater und hätte alles, was konservative Türken vielleicht provozieren könnte: eine avantgardistisch-absurde Form, eine drastisch sexuelle Sprache, die Thematisierung von Geschlechtsüberschreitung. Denn eigentlich sind die in Istanbul allgegenwärtigen Transvestiten ein türkisches Tabuthema, sie können dort jederzeit inhaftiert werden.

Wie viele andere Produktionen aus der Türkei überrascht auch die Tanzkompanie Ciplak Ayaklar Kumanyasi aus Istanbul mit ästhetischer Kraft und politischen Aussagen. Sie macht die Militarisierung der Türkei zum Thema: „Mehmet Bari ‚i seviyor‘ “ spielt auf Mehmet Tarhan an, einen homosexuellen Kurden, der den Wehrdienst in der Türkei verweigerte und verhaftet wurde – und untersucht zugleich augenzwinkernd die Zusammenhänge von Militär und Tanz, der zuweilen ja auch einem fast mörderischen Drill gleicht. Mithilfe von Kriegscomputerspielen, Soldatenpuppen und einer Handkamera werden Bilder von Gewalt, Kontrolle und Unterdrückung dargestellt – dazwischen spricht Mehmet Tarhan auf Video über seine Wehrdienstverweigerung und das, was geschah, nachdem er inhaftiert wurde. Während sie sich auf Bonn vorbereiteten, sagt ein Tänzer, wurde ein weiterer Wehrdienstverweigerer in der Türkei verhaftet und gefoltert.

Wenn also Kritik an Staat und Gesellschaft in der Türkei nicht vertragen wird, so macht die Biennale klar, dass dort trotzdem ein erstaunlich kritisches Theater zu entdecken ist.