: „Im Endspiel für Deutschland“
Das Jubelverhalten der Deutschtürken beim heutigen Halbfinale wird von der deutschen Öffentlichkeit zum Integrationstest hochstilisiert. Das ist alles Quatsch, sagt der Migrationsforscher Dirk Halm: „Da wird ein Identitätskonflikt konstruiert“
DIRK HALM, 37, ist Migrationsforscher und arbeitet am Zentrum für Türkeistudien an der Universität Duisburg-Essen.
INTERVIEW SABINE AM ORDE
taz: Herr Halm, wird das Halbfinale Deutschland – Türkei eine Herausforderung für die Integration der Deutschtürken?
Dirk Halm: Nein, trotz einiger Integrationsdefizite, die es gibt, wird dieses Spiel zeigen, dass es viele deutsch-türkische Kontakte und Netzwerke gibt, die zu einem gemeinsamen deutsch-türkischen Fußballfest führen.
Derzeit wird aber vielerorts suggeriert: Wären die Deutschtürken nur richtig integriert, würden sie zu Deutschland halten.
Das macht keinen Sinn. In der zweiten und dritten Generation ist eine Doppelidentität der Normalfall. Es mag besser oder schlechter gelingen, diese beide Identitäten zu integrieren – aber es gibt sie. Mischidentitäten gehören nun mal zur Einwanderung.
Warum entscheiden sich Deutschtürken, die hier geboren und aufgewachsen sind, beim Fußball dennoch für die Türkei?
Migrantinnen und Migranten haben eine transnationale Identität, die nicht zu solchen Spielen passt. Nur der Anachronismus des Länderspiels führt ja zu diesem Konflikt, wo man sich für oder gegen etwas entscheiden muss. Da wird ein Identitätskonflikt konstruiert und man kann froh sein, dass er nur 90 Minuten oder 120 Minuten dauert. Diese Bipolarität ist übrigens eine besondere deutsche Problematik, die tief verwurzelt im deutschen Nationenkonzept ist. Das sieht man ja auch an der ganzen Debatte um den Doppelpass, die andere Länder in der Schärfe nicht gehabt haben.
Aber warum überwiegt beim Fußball der türkische Teil der Identität?
Das ist zunächst einmal eine Unterstellung. Aber ich vermute auch, dass die Sympathien für die Türkei überwiegen. Heimatliche Wurzeln sind nun einmal eine Herzensangelegenheit – und Fußball ist das anscheinend auch. Die Fähigkeit, beides zu integrieren, wird sich im Anschluss zeigen. Wenn die Türkei ausscheiden sollte, dann wird es wohl eine ähnliche Situation wie bei der Weltmeisterschaft geben: Dann werden die Türken zu Deutschland halten.
Was wäre anders, wenn es in der deutschen Elf türkischstämmige Spieler geben würde?
Dann gäbe es Vorbilder und Identifikationsfiguren – und das Gefühl: Wir gehören dazu. Schön wäre, wenn endlich eine breitere Debatte darüber angestoßen würde, warum Hamit Altintop oder Hakan Balta eben nicht in der deutschen Elf spielen. Dann würde deutlich: Mit mangelnder Offenheit verspielt man eben auch Chancen.
Warum spielen noch immer keine Deutschtürken im deutschen Team?
Natürlich spielen die Exklusionsmechanismen in Deutschland dabei eine Rolle. Aber wichtig ist auch: Der türkische Verband ist einfach besser darin, Kontakt zu guten Spielern zu halten. Er will diese Spieler gewinnen. Und Deutschland tut sich – trotz einiger Fortschritte – noch immer sehr schwer damit.
Was bedeutet es für die Türken, gegen Deutschland im Halbfinale zu stehen?
Das bringt das Gefühl, den Deutschen endlich einmal auf Augenhöhe zu begegnen. Damit wird der türkischstämmigen Bevölkerung das Gefühl des Defizitären genommen, das sonst häufig dominiert.
Und wenn die Türken verlieren?
Wenn man Menschen in Wettbewerb zueinander setzt, ist das natürlich keine besonders gute Grundlage für ein besseres gegenseitiges Verständnis. Allerdings glaube ich, dass es in diesem Fall zum Beispiel besser funktioniert als im Fall Deutschland/Holland, wo man sich nachher am heruntergelassenen Schlagbaum in Venlo trifft und sich mit Bierdosen beschmeißt. Im Fall der Deutschen und Türken gibt es eine gemeinsame Lebenswirklichkeit. Die Gegnerschaft ist doch eher konstruiert.
Sehen Sie die Gefahr von Ausschreitungen?
Nein, ich glaube, dafür sind sich Deutsche und Türken viel zu nahe. Die Menschen kennen sich und es gibt Netzwerke, die so etwas verhindern. Wenn Sie an die 1.-Mai-Krawalle in Kreuzberg denken: Die Konflikte dort haben deutsche und türkische Stellen gemeinsam befriedet.