: Der Mahner mit Nachsicht
Punkgeschichte als Suche nach dem richtigen Leben: Dolf Hermannstädter, Verleger des ältesten Hardcore-Punk-Magazins Deutschlands „Trust“, hat seine gesammelten Kolumnen veröffentlicht. Glücklicherweise ist er als Gesprächspartner humorvoller, als er es in so manchem seiner Texte war
VON RALF LORENZEN
Die erste Überraschung bietet Dolf Hermannstädter schon bei der Begrüßung. Hatte er doch in seiner Kolumnensammlung „Got me? Hardcore-Punk als Lebensentwurf“ über den Kapuzenpulli der Gruppe Leatherface geschrieben: „Hergestellt in Mexiko, bedruckt in der Tschechischen Republik und dann auch noch eine scheiß Qualität“ – und nun steht er in eben jenem Kleidungsstück in der Tür seines Hauses in Bremen-Peterswerder. „Ertappt“, sagt er freundlich lächelnd, „das war ein Geschenk, das konnte ich nicht ablehnen.“
Der Besucher ist erleichtert: Nach der Lektüre von 305 Seiten geballter Punkbiografie hatte er schon befürchtet, hier auf eine Konsequenz zu treffen, neben der er sich selbst ganz klein vorkommen müsste. In der Tat gehört der Autor Hermannstädter zu jenen, die einem manchmal auf die Nerven gehen, weil sie einen immer an die eigenen Unzulänglichkeiten erinnern. Er ist einer von denen, auf die man andererseits aber auch nicht verzichten möchte: Weil sie einen überhaupt noch an etwas erinnern. In „Got me?“ werden die Themen der Punkbewegung – Musik, Konsum und, ja, Politik – nicht in verklärende Pogo-Anekdoten umgemünzt. Sondern in ernsthafte Auseinandersetzungen um den richtigen Weg, das richtige Leben. „Was sich durch wie ein roter Faden eben auch durch die Punk/HC-Bewegung zieht“, heißt es im Vorwort, „ist die von Dolf erkannte Tatsache, dass der Mensch nicht ist, was er sein sollte.“
Der Gesprächspartner Hermannstädter erläutert geduldig und humorvoll, warum er mit der Rolle des Mahners oder „Erinnerers“, wie er selbst sagt, gut leben kann. Die Bravo wiederhole auch seit 50 Jahren, sagt er, „dass man vom Zungenkuss keine Kinder kriegt. So muss man auch immer wiederholen: Esst kein Fleisch, konsumiert wenig, schont die Umwelt.“ Das sind die Themen, die er seit über 20 Jahre in die Punkbewegung einschreibt.
Die Musik der Sex Pistols hört er als 15-Jähriger das erste mal 1979 im Musikunterricht seiner Augsburger Schule. Für den zeitgenössischen Stumpf-Punk mit seiner „dummen Gewalt“ kann er sich nie richtig erwärmen, wendet sich lieber Bands wie Crass und dem US-amerikanischen Hardcore zu. „Die Musik hatte mehr Inhalt, und die Aggressivität sollte keinem weh tun, außer dem Staat und dem System“, sagt Hermannstädter. „Wir wussten ja nicht, dass da auch viel Scheiße abging.“ Eine Minute Telefonierten in die USA kostete acht Mark und Internet gab’s nicht. „Wir hatten nur eine Single in der Hand, auf der standen Texte mit Botschaften wie: Sei nicht gewalttätig. Das fanden wir toll und wir fingen an, uns den europäischen Hardcore zusammen zu basteln.“
In der süddeutschen Bewegung wächst er nach und nach langsam zu einer zentralen Figur heran. Erst wird er Manager der Augsburger Band Inferno. 1986 gründet er das Fanzine Trust, das er bis heute herausgibt. „Man kann Leute ausbeuten oder aber korrekt sein und solange jemand korrekt ist, gibt es nichts daran auszusetzen, oder?“, fragt er im November 1989 und formuliert den Anspruch, eine „gute Szene“ auzubauen – „ohne Kommerz und Ablinkerei“.
Heute gibt er unumwunden zu, dass es ihn stolz macht, „so ein Heft über 20 Jahre am Leben zu halten, ohne etwas daran zu verdienen, aber auch ohne den Anspruch zu verlieren, dass jeder nur das schreibt, wozu er Lust hat“. Andere Blätter bekämen von Promotern diktiert, wann sie welche Interview und Reviews abdrucken sollen, um im Gegenzug die halbseitige Anzeige zu ergattern.
Von Anfang an steht der Verleger der eigenen Szene kritisch gegenüber: „Man stelle sich vor, wie viele Leute, die im Dezember Fugazi sehen werden, totale Hohlböcke sind. Sie verstehen nichts von der ganzen Idee der ganzen Band, und von deren ganzen Lebens- und Denkweise“, schreibt er im November 1989. Heute schaudert es ihn, wenn er an die 40.000 Besucher beim Hurricane-Festival im niedersächsischen Scheeßel denkt: „Leute gehen nach Scheeßel, weil es ein Event ist. Es ist heute schick, gegen Nazis und ein bisschen vegetarisch zu sein.“
Über den Osterdeich kommen jetzt die ersten Rufe aus dem Weserstadion herüber geweht, wo gleich ein Bundesliga-Spiel angepfiffen wird. Hermannstädter erinnert sich an einen Moment in der Geschichte des Magazins, an dem er nicht er nicht konsequent genug war. „Im Nachhinein hätte ich die ganze Grunge-Scheiße aus dem Heft raus lassen sollen. Über die kam die Beliebigkeit rein, da ging plötzlich alles, lange Haare, und Leute, die sonst nichts mit Punk zu tun hatten, waren plötzlich cool und durften mitmachen.“ Nach und nach kommt alles, was der Besucher gerne hört, ins schlechte Töpfchen: Neben Nirvana die meisten Singer/Songwiter. Und deutsche Rockmusik aus Hamburg. So knallhart und schwarz-weiß Hermannstädter seine Ansprüche formuliert, so nachsichtig ist er mit Verirrungen: „Wenn ich versuchen würde, meinen Lebensentwurf nach außen durchzusetzen“, sagt er, „wäre ich komplett allein.“
In einem besonders bewegenden Kapitel beschreibt er den Tod seiner Mutter, die er in die Schweiz begleitet, wo sie Sterbehilfe in Anspruch nimmt. Das hat weder etwas Selbsttherapeutisches noch etwas Rührseliges: „Ich habe einfach drüber geschrieben, weil es ein wichtiges Thema ist, und man kaum etwas Vernünftiges drüber liest.“
Ian MacKaye, Sänger der Band Fugazi und eine Art Ikone des politisch korrekten Hardcore, schreibt in seinem Vorwort: „Für mich ist einer der zentralen Lehrsätze des Punk zu meinen, was man sagt. Und ob du mit Dolfs Ansichten einverstanden bist oder nicht, ich denke, wir sind uns alle einig, dass er ein ‚Straight-up punk‘ ist“. Oh ja, das ist er. Daran ändert auch ein Kapuzenpulli nichts.
„Got Me? Hardcore-Punk als Lebensentwurf. Trust-Kolumnen 1986–2007“, Mox & Maritz, 306 S., 15,80 Euro