piwik no script img

Archiv-Artikel

„Wir hören Raum“

Barry Blesser ist einer der Väter der digitalen Klangrevolution. Für das Festival Tuned City ist er in Berlin. Ein Gespräch über künstliche Konzerthallen und Klang, den „einfachsten Raumtransporter“

BARRY BLESSER

Blesser gilt als einer Väter der digitalen Klangrevolution. Er arbeitete in den 60er und 70er Jahren am Massachusetts Institute of Technology, entwickelte einige der ersten digitalen Soundprozessoren und fungierte im Skandal um die Nixon-Tonbänder als Berater des US-Justizministeriums. Heute erforscht er die historischen und sozialen Implikationen von „auraler Architektur“. Blesser spricht bei der Eröffnungsveranstaltung des Festivals Tuned City im Berliner Pfefferberg und moderiert auch die Abschlussdiskussion. Sein Buch „Spaces speak, are you listening“, erschienen 2006, ist nur auf englisch erhältlich. RAF

INTERVIEW ARNO RAFFEINER

taz: Herr Blesser, Sie waren in den 60er und 70er Jahren am Massachusetts Institute of Technology als Forscher an der Erfindung von digitaler Audiotechnologie beteiligt. Wie kann man sich das vorstellen?

Barry Blesser: Es war ein Abenteuer, und es war viel Spaß. Wir hatten keine Ahnung, was für Implikationen das hatte, was wir taten. Ich habe die Revolution des digitalen Audios mit einem kommerziellen Produkt gestartet, einem digitalen Nachhallsystem, dem EMT-250, das ich Mitte der 70er in Deutschland bei einer kleinen Firma im Schwarzwald entwickelt habe. Ein künstlicher Konzertsaal. Die Idee, die Akustik eines ganzen Konzertsaals elektronisch zu erzeugen, war sehr aufregend. Stellen Sie sich vor: Das Gerät war etwa einen Kubikmeter groß, beherbergte 400 Schaltkreise und kostete 20.000 Dollar. Heute kann man für 29 Dollar etwas viel Besseres als Software kaufen.

Wie hat sich die digitale Revolution auf die künstlerische Praxis ausgewirkt?

Wenn man elektronische Musik mit all ihrem Equipment nimmt und sich das historisch ansieht, gibt es einen interessanten Unterschied zwischen der aktuellen und früheren Künstlergeneration. Früher brauchte es eine ganze, manchmal sogar mehrere Generationen, um ein neues Instrument oder eine neue musikalische Form zu definieren. Es gab immer einen langen Zeitraum, um die Kunst zu adaptieren und weiter zu verfeinern. Heute suchen alle ständig nach künstlerischen Neuerungen, aber niemand kümmert sich mehr um den Verfeinerungsprozess. Der wird einfach übersprungen. Alle stürzen sich gleich auf die nächste aufregende Möglichkeit, alles verändert sich sehr schnell. Wenn heute ein elektronisches Instrument erfunden wird, ist es nach 20 Jahren für immer verschwunden, fast ohne Anzeichen, dass es je existiert hat. Das ist eine sehr große Veränderung: Wir sind wesentlich stärker an Neuigkeit als an Verfeinerung interessiert.

Wie würden sie Audio überhaupt beschreiben?

Heutzutage denken die Leute bei Audio vor allem an Musik und Sprache. Aber von einem evolutionären Standpunkt aus gesehen, war Klang stets einer der verlässlichsten Bezugspunkte, um zu wissen, was in der Umgebung passierte. Man konnte die Bewegung von Menschen hören, ein Pferd die Straße runterkommen oder Tiere im Wald. Klang ist also eine Form der Informationsvermittlung. Das vergessen viele Leute. Wenn ein Ereignis stattfindet, das Klang produziert, wird der automatisch an die ganze Umgebung versendet, auch um Hindernisse herum.

Haben wir diesen Aspekt vergessen, da unsere Kultur so stark visuell orientiert ist?

Tuned City

Das Festival mit dem Untertitel „Zwischen Klang- und Raumspekulation“ findet vom 1. bis 5. Juli 2008 an mehreren Orten statt. Es wird Vorträge, Workshops, Ausstellungen und Klanginterventionen geben, etwa ein Konzert über die Hausanlage der Alexa-Shoppingmall am Donnerstag. Barry Blesser hält heute um 20 Uhr einen Vortrag im Pfefferberg. (www.tunedcity.de)

Ja. Aber mit den elektronischen Medien kommt etwas Neues hinzu: Sie verändern unsere Wahrnehmung von Orten und Ortsgebundenheit. Letztes Jahr sind auf den Straßen New Yorks an einem Tag drei Leute gestorben, weil sie sich durch das, was sie über Kopfhörer anhörten, vollkommen in ihrer eigenen Musikwelt befanden. Sie sind einfach mitten auf die Straße gelaufen, weil sie vergessen hatten, dass sie sich im Verkehr einer Großstadt bewegen. Klang ist also gewissermaßen die einfachste Form dessen, was ich einen „space transporter“ nenne, und das ist vermutlich die größte Veränderung des 20. Jahrhunderts. Man kann sich heute mit einem Computer oder einem iPod von einem Klangraum zum anderen bewegen und selbst bestimmen, an was für einem Ort man sich befindet. Das war im 19. Jahrhundert unmöglich.

Digitale Klänge sind allgegenwärtig, trotzdem fragen Sie im Titel Ihres aktuellen Buchs: „Spaces speak. Are you listening?“ Hören wir denn weniger als früher?

Der Titel meint ja vor allem den Klang von Räumen. Und in der Tat glaube ich, dass wir in dieser Hinsicht viel weniger hören als vor hundert Jahren. Heute hören wir mehr auf Inhalte als auf unsere wirkliche Umgebung. Obwohl zum Beispiel die Akustik in einem Restaurant enormen Einfluss darauf hat, wie man sich zu anderen Leuten verhält und wie nahe man beieinander sitzt. Manche Dinge, die ich bei den Recherchen für das Buch entdeckt habe, waren wirklich interessante Überraschungen. So ist etwa das Konzept von Multimediakunst schon tausende von Jahren alt. Das geht zurück bis zu Höhlenmalereien, bei denen die Position der Bilder abhängig von der Akustik der Höhle gewählt wurde. Wenn an einer bestimmten Stelle eine Herde von Tieren an die Wand gemalt ist und man in die Hände klatscht, erzeugen der Hall des Raumes und die Echos einen Klang, als würden die Tiere vorbei galoppieren. Das war angelegt wie eine multimediale Erfahrung. Die Konzepte unserer Kunstformen haben sich also nicht wirklich verändert, nur die Technologie, um sie wahrzunehmen.