: Die Lindenstraße der Datensammler
Gibt es in Deutschland tatsächlich Armut? Sind kinderlose Männer dumm? Seit 25 Jahren misst das Sozio-oekonomische Panel so genau wie kein anderes Instrument deutsche Zustände. Ein Grund zu gratulieren
BERLIN taz ■ Kinderlose Männer haben relativ oft Abitur, aber kein Studium. Die gewachsene Ungleichheit zwischen den Lohngruppen betrifft Migranten sogar noch stärker als eingeborene Deutsche. Bei verheirateten Paaren hat er im Schnitt 50.000 Euro Kapital mehr als sie.
Ob Geld-, Bildungs-, Geschlechter- oder Kinder-Fragen: Es gibt kein politisch heiß diskutiertes Thema, das ohne Zahlen auskommt. Erst die Daten verraten, ob und wie Einkommen und Chancen ungleich verteilt sind – nur gute Daten müssen es sein, qualitativ hochwertige Daten. Mit der Frage „Kennen Sie einen Armen?“ meinten noch vor kurzer Zeit Arbeitgeber-Lobbyisten die Armutsdebatte abwürgen zu können. Motto: Was ich nicht kenne, gibt es nicht. Dass auch in Deutschland die Diskussion jetzt weiter ist, ist zu einem beträchtlichen Teil einem Datenberg zu verdanken: dem Sozio-Oekonomischen Panel, kurz SOEP.
Durch diesen Datenberg, virtuell aufgeschüttet im Berliner Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), graben sich mittlerweile weltweit unzählige Volkswirte und Soziologen. Denn kein anderer Datensatz gibt so ausführlich Auskunft über Status, Lebensweisen und Befindlichkeiten der Bevölkerung in Deutschland. 20.000 Menschen in 11.000 Haushalten werden seit 1984 jedes Jahr für das SOEP befragt.
Von den 5.921 befragten BRD-Ursprungshaushalten von 1984 sind jetzt noch rund 3.400 dabei. Hinzugekommen sind mittlerweile Ost-Haushalte, Migrantenhaushalte, und seit einigen Jahren werden gesonderte Kinder- und Jugenddaten erhoben. Und weil dieses Jahr die 25. Erhebungs-„Welle“ läuft, feiert das SOEP derzeit Geburtstag. Bundesforschungsministerin Annette Schavan hat schon gratuliert, und am Dienstag gibt’s einen Festakt in Berlin. Auf dem Podium dann neben Wissenschaftlern mit dabei: Sybille Waury, Hauptdarstellerin in der seit 23 Jahren laufenden Fernsehserie „Lindenstraße“. Immerhin, sagt Gert Wagner, Herr des SOEP seit 1989, „ist die Lindenstraße eine andere Art der Dauer-Beobachtung der Republik“.
Anfang der 1980er-Jahre, als das SOEP mit 2 Millionen Mark pro Jahr angeschoben wurde, war Wagner schon als Doktorand am Projekt beteiligt. Der damalige DIW-Chef Hans-Jürgen Krupp schreibt in seinem SOEP-Rückblick, welche Revolution es für die Großtheorie-verliebte deutsche Wissenschaft damals bedeutete, sich im Kleinen mit den konkreten Lebenslagen echter Menschen zu befassen. Doch mittlerweile, schließt er nachdenklich, „haben wir sowohl akademisch als auch politisch den Blick für die breiteren makroökonomischen Zusammenhänge verloren, die die Wirtschaft als Ganzes steuern“. Das tue Deutschland nicht gut.
Doch haben die Erhebungen des SOEP immer schon diejenigen bereichert, die sich über die deutsche Gesellschaft als Ganzes Gedanken machten. Anhand der über die Jahre auflaufenden Daten wurde in den späten 80ern zum Beispiel erkennbar, dass Armut in Deutschland ein individuell vorübergehendes Phänomen war: Die Rede von der „Zwei-Drittel-Gesellschaft“, in der ein Drittel dauerhaft ausgeschlossen war, traf gar nicht zu. Denn die Betroffenen waren meist nur kurzfristig arbeitslos.
Möglicherweise aus anhaltendem Stolz über diese wichtige Erkenntnis haben Gert Wagner und Co noch 2004 zum Höhepunkt der Hartz-IV-Debatte erklärt, das mit der Ungleichheit in Deutschland sei alles nur halb so wild. Doch dann muss sich in kurzer Zeit die Botschaft der Daten verändert haben. In diesem Mai waren es die SOEP-Forscher, die Arbeitsminister Olaf Scholz dazu zwangen, seine beschönigende Lesart des Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung zu revidieren. Die SOEP-Daten belegten einen Anstieg der Armutsquote auf 18 Prozent. Am SOEP kommt keiner mehr vorbei. ULRIKE WINKELMANN