Schleier und Schleier

EM-Nachlese

Neulich hatten wir einen Gast. In Neukölln, wo wir wohnen. Er war nicht glücklich dort. Weshalb er sich unwohl fühlte, konnte er nicht genau sagen. Aber alles schien ihm fremd. Er hatte Angst, sich beim Essenskauf eine Lebensmittelvergiftung zu holen, und für sein Gefühl wohnten zu viele Türken im Viertel.

Mit den Extremisten, den Islamisten hier im Viertel wolle er nichts zu tun haben. Wenn ich hier auf der Straße mit einem quatsche, sagte er, fange ich sofort einen Streit an. Wir, sagte er, wir Aleviten sind ganz anders drauf. Wir sind liberal. Wir verschleiern unsere Frauen nicht. Wir mussten lachen, und ich sagte: Aber eure Frauen sind es schon. Er lachte mit.

Es war mitten in der EM und Deutschland und die Türkei hatten noch nicht gegeneinander gespielt. In unserem Hinterhof wucherte um ein Fenster herum ein schwarzrotgoldenes Fahnengeschwür, das mit jedem Tag größer wurde. Unser Gast freute sich auf die anstehende Partie, wir hingegen stellten die Möglichkeit eines Bürgerkriegs in den Raum. Ach was, sagte er, an den türkischen Autos stecken doch fast immer beide Fahnen! Ja, antworteten wir, aber nicht an den deutschen.

Etwas später stand ich im Supermarkt in der Schlange vor einer Frau, deren Tochter hinter den Kassen auf einem Einkaufstaschenpacktisch saß. Die Mutter war verschleiert und die Tochter etwa vier Jahre alt. Das Mädchen war fest eingewickelt in eine nagelneue Deutschlandfahne, deren Knickfalten noch deutlich zu sehen waren, sie trug eine schwarzrotgoldene Mütze und verschwand unter beidem fast vollständig. Ihre deutsche Freundin neben ihr sah genauso aus. So verschleiert warteten sie bei den Einkaufswagen auf die Mutter.

HILKE RUSCH