: Soundtrack zum Protest
Beim Massilia Sound System rappt man auf Okzitanisch, was kaum einer mehr versteht. In der Arena begeisterte die Band mit ihrer Mischung aus arabischen, afrikanischen und europäischen Metren
VON ELISE LANDSCHEK
Unter dem Motto „Oai E Libertat“ – okzitanisch für „Chaos und Freiheit“ –, das auch der Titel ihrer neuen Platte ist, treten Massilia Sound System zum Eröffnungsabend des Popdeurope-Festivals an. Die schwarz-orange Silhouette des Marseillaiser Wahrzeichens, der Kirche Notre-Dame de la Garde, leuchtet im Bühnenhintergrund, ein riesiges Mischpult dominiert die Szenerie. Nur drei Sänger, ein Gitarrist, ein Keyboarder und ein DJ tummeln sich auf der Bühne. Denn während bei den Live-Auftritten der Band in Marseille eine ganze Armada an Musikern aufgefahren wird, läuft das Berliner Konzert eher auf Sparflamme. Der Hauptteil der Sounds kommt aus der Konserve des DJs.
Ein französischer Fanblock hat sich vor der Bühne postiert, doch weiter hinten lichten sich die Reihen. Für einen Hauptact des Abends ist es auffallend leer. Trotzdem funktioniert das in Frankreich bereits berühmte Konzept der Massilia-Konzerte auch in Berlin: Die Managerin verteilt zwischen zwei Songs Gratis-Pastis von der Bühne an die Zuschauer. Die werden von der Band zu provenzalischen Volkstänzen angeheizt, dass ihnen die Puste ausgeht.
In Frankreich füllen Massilia Sound System inzwischen große Konzerthallen, vor allem im Süden funktioniert die Kombination von Lokalpatriotismus und Feierlaune. Das Leitmotiv von Massilia (lateinisch für Marseille) ist ihre Heimatstadt. Die Mittelmeerstadt ist bis heute das Enfant terrible der französischen Großstädte: Marseille ist laut, dreckig und unglaublich lebendig. Die kulturelle Melange einer hohen Zahl von Einwanderern prägt von jeher das Stadtbild und das Lebensgefühl der Marseillaiser. Ein bunter Mix aus vielen Stilelementen kennzeichnet auch die Musik von Massilia Sound System und verleiht ihr ein Profil, das sich bewusst von der üblichen Sparte des „chanson française“ abgrenzt. Unter dem Raggamuffin Soundsystem vereinen sich Reggae, Dub, HipHop, Jungle und südfranzösische Folklore. In den Texten geht es fast ausschließlich um die Stadt und ihre Probleme.
Die seit den 80er-Jahren vom wirtschaftlichen Abschwung geprägte Hafenmetropole soll durch umfangreiche Renovierungspläne und der Umsiedelung ärmerer Bevölkerungsschichten aus der Innenstadt in die Vororte aufgewertet werden. Doch die Bewohner setzen sich zur Wehr, Demonstrationen gegen gierige Investoren und Zwangsräumungen besetzter Wohnungen sind an der Tagesordnung. Tatou, Sänger und MC von Massilia Sound System seit der Gründung vor 24 Jahren, versteht seine Musik als „Soundtrack für den Protest gegen die Hegemonie der Pariser Zentralregierung“ und gleichzeitig als „Aufruf, die Stadt ‚von unten‘ schöner zu gestalten“. Dabei ergibt sich allerdings eine Schwierigkeit: Fast alle Texte sind auf Okzitanisch geschrieben, jener Sprache, die sich seit dem 11. Jahrhundert parallel zum Französischen entwickelte und die Hochsprache vor allem in der Troubadourlyrik in der Provence, Katalonien und Norditalien bildete. Sie wurde Mitte des 19. Jahrhunderts von der französischen Regierung bei Strafe verboten – wohl, um den nationalen Zusammenhalt zu stärken. Die „Langue d’oc“ (oc bedeutet „ja“) wird heute von kaum mehr als einer Million Menschen verstanden. „Französisch ist nicht unsere Sprache, sie wurde uns aufoktroyiert und hat damit unsere Kultur zerstört“, sagt der in Paris geborene Tatou über die Sprache seiner Wahlheimat, in der er seit fast 30 Jahren lebt.
Das Kernelement der Wiederbelebung jahrhundertealter Folklore richtet sich dabei gegen den revolutionsgeprägten französischen Mythos der nationalen Einheit und den Staat, der „Radioquoten anordnet und Fremdsprachen in der Bildungspolitik vernachlässigt“, so Tatou.
Die okzitanische Kultur – sie lässt sich anscheinend nur schwer in Worte fassen, sowohl von Tatou als auch von Arnaud, dem Mitbegründer des okzitanischen Kulturvereins Ostau dau País Marselhés. „Die Sprache ist für uns Überbringer eines Lebensgefühls und einer bestimmten freiheitlichen Weltsicht“, sagt Arnaud pathetisch. Für ihn haben die „Okzitanier“ nichts mit Regionalismus oder gar Separatisten zu tun. „Alles, was wir wollen, ist Respekt für die Einzigartigkeit jeder Kultur. Wir brauchen dazu keine Fahne, Währung oder Hymne.“ Arnaud und seine Truppe wollen die kulturelle Diversität mit kostenlosen Sprachkursen, einer Bibliothek mit okzitanischen Büchern und Kursen für traditionelle provenzalische Tänze fördern.
Das Erfolgsrezept von Massilia bleibt aber ihre Musik, die dem Esprit von Marseille entspringt. Die Einflüsse von arabischen, afrikanischen und alteuropäischen Metren und Melodiefragmenten, verwoben mit Raggarhythmen und Dubbeats, sind höchst tanzbar. Die viel gepredigte Weltoffenheit der Band verliert sich aber gleichzeitig in einer sprachlichen Exklusivität, die auf der kurzen Klaviatur des Gemeinschaftsgefühls spielt. So erscheint der Rekurs auf die Tradition merkwürdig rückwärtsgewandt und zielt an ihren Adressaten haarscharf vorbei.