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Archiv-Artikel

Beredtes Schweigen

Ein 56-jähriger ehemaliger Pfleger der Stiftung Friedehorst ist vor dem Landgericht angeklagt, drei widerstandsunfähige, körperlich und geistig Behinderte sexuell missbraucht zu haben

„Großer Nachholbedarf“

Schätzungen zufolge haben Menschen mit Behinderung ein vier Mal höheres Risiko, Opfer sexueller Gewalt zu werden als Menschen ohne Behinderung. „Das Problem ist wesentlich größer, als man das in der Öffentlichkeit wahrnimmt“, sagt Paul Ewert, Therapeut für Sexualstraftäter bei der Fachstelle für Gewaltprävention in Bremen. Jedoch hätten nicht nur Institutionen der Behindertenhilfe „starke Defizite“ im Umgang mit dem Thema sexuelle Gewalt, so Ewert. Diesbezüglich gebe es auch bei den Wohlfahrtsverbänden „allgemein großen Nachholbedarf“, ebenso in der Katholischen Kirche. Die bremische Schulbehörde indes hat einen Verfahrenskatalog für Verdachtsfälle von sexuellem Missbrauch entwickelt, ähnliches gibt es auch in der Evangelischen Kirche. Die Sportvereine indes scheuen sich nach Ewerts Erfahrungen, das Thema anzugehen.

Ein „klassisches Täterprofil“ gebe es nicht. Häufig würden die Täter jedoch gerade in jenen Institutionen arbeiten, aus denen die Opfer kommen. Ein offener Umgang mit dem Thema wirke da „sehr abschreckend“ auf potentielle Täter, welche laut Ewert „deutlich planender vorgehen als allgemein angenommen wird“. mnz

von Jan Zier

Der Vorwurf wiegt schwer: In mindestens fünf Fällen soll ein 56-jähriger Mitarbeiter der Stiftung Friedehorst körperlich und geistig Behinderte sexuell missbraucht haben. Seit gestern muss sich Henry M. dafür vor dem Landgericht Bremen verantworten. Er selbst schweigt zu den Vorwürfen, ließ aber zum Prozessauftakt seinen Rechtsanwalt eine längliche Erklärung verlesen. Tenor: „Die Anschuldigungen treffen insgesamt nicht zu.“

Die Staatsanwaltschaft wirft dem mittlerweile arbeitslosen Diakon und Pflegehelfer vor, sich zwischen 2005 und 2007 an drei jeweils spastisch stark gelähmten und geistig erheblich retardierten Rollstuhlfahrern vergangen zu haben. Und zwar bei sich zu Hause, wo er mit den Angeklagten – mit denen er jeweils „freundschaftlich“ verbunden gewesen sein will – nackt in einem Bett schlief. M. arbeitete seit 1968 für Stiftung Friedehorst, verbrachte seine Freizeit immer wieder mit den von ihm betreuten Bewohnern. Er ist homosexuell, hat das nach eigenen Worten aber erst erkannt, als 1987 seine Frau gestorben war.

Immer wieder habe er in seinem Leben für „bessere Lebensbedingungen“ der Behinderten gekämpft, schreibt er dem Gericht, gegen „stukturelle Gewalt“ und „freiheitsberaubende Maßnahmen“ in Friedehorst. Und dafür, dass auch Behinderte ihr Recht auf Sexualität ausleben könnten. Mit seinem Arbeitgeber hatte er nach eigenen Angaben immer wieder „heftige Auseinandersetzungen“.

Zwar gibt er zu, in einem Fall „den Begehrlichkeiten“ des Betreuten „nachgegeben“ und damit „eine Grenze überschritten“ zu haben – jedoch nur auf dessen „ausdrücklichen Wunsch“ und „ohne jede Missbrauchsabsicht“. In allen andere Fällen will er allenfalls „geknuddelt und gekuschelt“ oder etwa bei der Genitalrasur geholfen haben. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass die Opfer nicht in der Lage waren, sich zu widersetzen. Sie sollen jedoch ihr Missfallen bekundet haben. Horst Schaffarczyk, Geschäftsführer bei der Stiftung Friedehorst, sprach von einem klaren und nicht tolerierbaren „Machtmissbrauch“ durch M. Die Opfer seien existenziell von ihm abhängig gewesen. In 28 Jahren seiner Arbeit bei der Stiftung Friedehorst könne er sich an keinen ähnlich gelagerten Fall erinnern, so Schaffarczyk.

Die Fachstelle für Gewaltprävention Bremen – die als Prozessbeobachterin zugegen war – nannte M.‘s Vorgehen „perfide“. Es sehe so aus, als wenn er die Bewohner benutzt habe, um seine eigene Sexualität zu leben. Viele Sexualstraftäter hätten ein „Reifungsdefizit“ in Bezug auf ihre eigene Sexualität und Emotionalität – und würden sich deshalb „emotional altersentsprechende Geschlechtspartner“ suchen, sagt Paul Ewert, der als Therapeut bei der Fachstelle arbeitet.

Unterschiedlich waren vor Gericht die Ansichten darüber, inwiefern die Sexualität von Behinderten in Friedehorst thematisiert wird. Nahid Chirazi, ebenfalls Geschäftsführerin, wies jedoch darauf hin, dass die BewohnerInnen im Einzelfall auch zu Prostituierten begleitet würden.