: Die geteilte Stadt
AUS AHMEDABAD SASCHA ZASTIRAL UND HELENA SCHÄTZLE (FOTOS)
„Da drüben ist Indien – und wir stehen in Pakistan“, sagt Noor Jahan. Die Mitarbeiterin der Indischen Vereinigung muslimischer Frauen lacht bei diesem Satz, dabei ist die Geschichte des geteilten Ahmadabad alles andere als unterhaltsam. Die Frau Anfang vierzig steht vor einer drei Meter hohen, von Stacheldraht gekrönten Mauer. Hinter ihr, in Sichtweite, sitzen zwei Polizisten vor einem vierstöckigen Haus. Auf dem Dach weht eine Flagge in Safran-Orange, große Plakate zeigen die Abbildungen von Göttern – dort leben Hindufamilien. Ihr Haus ist zur rund um die Uhr bewachten Enklave geworden.
Die drei Kilometer lange hässliche Mauer haben die Bewohner des Hinduviertels Vezelpur hochgezogen, um sich von ihren muslimischen Nachbarn abzugrenzen. Die vierspurige, von hohen Straßenlaternen gesäumte Straße davor erinnert fast an den Berliner Mauerstreifen. Nach den schweren religiösen Ausschreitungen vor sechs Jahren habe es hier monatelang Scharmützel gegeben, erzählt Noor Jahan. Muslime hätten Nacht für Nacht das Hinduviertel beschossen, auf muslimischer Seite seien immer wieder Häuser in Brand gesteckt worden, ohne dass die Polizei eingriff.
Seit in Ahmedabad am vergangenen Wochenende bei einer Anschlagserie 50 Menschen starben, steht die nordwestindische Stadt unter Schock. Die Drahtzieher, eine Gruppe namens Indische Mudschaheddin, hatten erklärt, die Bomben seien eine „Rache für Gujarat“. Gemeint sind die tagelangen antimuslimischen Pogrome im Jahr 2002, bei denen Hindufanatiker 3.000 Menschen getötet haben. Ahmedabad ist seitdem eine streng nach Religionszugehörigkeit geteilte Stadt. Etliche Muslime, die damals aus Hinduvierteln vertrieben wurden, wagen nicht mehr, in ihre Häuser zurückzukehren; nur wenige der Täter wurden vor Gericht gestellt, nur einige sind verurteilt worden.
Firoza hat nun wieder Angst. Sie sitzt im Wohnzimmer ihres Reihenhauses in Ahmedabads Viertel Bombay Hotel auf dem Boden, neben sich ihre Tochter. Über ihnen wirbelt der Deckenventilator heiße Luft durch den Raum, an den Wänden hängen Koranverse. „Die Hindus haben meinen Mann erschossen“, sagt Firoza, „nur weil er ein Muslim war.“ Damals war ein Brand in einem Expresszug ausgebrochen, als dieser durch ein muslimisches Viertel der Stadt Gohra fuhr. Fanatische Anhänger des Welthindurates (VHP) waren gerade auf dem Rückweg von einer Pilgerfahrt, dutzende von ihnen verbrannten qualvoll in den Waggons. Schnell hieß es, Muslime hätten einen Brandsatz in den Zug geworfen, wenige Tage später setzte eine Hetzjagd auf Muslime im gesamten Bundesstaat Gujarat ein.
Firoza lebte zu dieser Zeit mit ihrer Familie unbehelligt in einem Hinduviertel von Ahmedabad, ihr Mann war Imam. Als die Ausschreitungen begannen, stürmte ein bewaffneter Mob auch seine Moschee, ein Bekannter der Familie fand nur noch seinen von Kugeln durchsiebten Körper. Einige Tage nach Ausbruch der Unruhen schickte die Zentralregierung in Delhi die Armee. Als die Soldaten einmarschierten, waren bereits tausende Häuser von Muslimen niedergebrannt, zehntausende Menschen waren aus der Stadt geflohen. 3.000 Tote sollen die vorhersehbaren Ausschreitungen gefordert haben, schätzen Menschenrechtsorganisationen. Die allermeisten von ihnen waren Muslime. Ein Untersuchungsbericht kam später zu dem Schluss, dass ein Gaskocher den tödlichen Brand in dem Expresszug ausgelöst hatte.
„Ich bin nach den Unruhen zur Polizei gegangen“, erzählt Firoza. Dort habe man ihr gesagt, ihr Mann sei bei einem Autounfall ums Leben gekommen – so stehe es in den Akten. Die Anzeige wegen Mordes wollten die Beamten nicht aufnehmen. „Ich bin dann mit meinen beiden Kindern aus der Stadt geflohen, in ein Lager.“
Heute lebt die Muslimin in Bombay Hotel – unter Angehörigen ihrer Religion. Die Kolonie aus 48 Reihenhäusern wurde mit Spendengeldern gebaut, die ein Imam aus Nordindien für die Hinterbliebenen der Massaker gesammelt hatte. In ihr altes Wohnviertel, zu ihren früheren Hindunachbarn, ist Firoza nie wieder zurückgegangen. „Ein Mal habe ich es versucht“, erzählt sie und wischt sich Schweiß von der Stirn. „Aber ich habe es nicht ausgehalten, ich musste umkehren.“ In Bombay Hotel ist das Leben nun sicherer, aber auch viel armseliger, vor allem für die Kinder. In dem Viertel gibt es keine Schule, das Geld für den Bus können sich nur wenige leisten.
Firozas Nachbarin Koshar hat früher im Stadtviertel Guptanagar gelebt. „Der Mob hat 3.500 Häuser von uns Muslimen angezündet“, erzählt sie. Zwar seien nicht ganz so viele Menschen wie andernorts getötet worden. Stattdessen seien die Hindus nach dem Motto „Töte einen, vertreibe zehn“ vorgegangen. Ihr Mann jedoch, ebenfalls ein muslimischer Geistlicher, wurde bei den Ausschreitungen getötet. „Jetzt leben dort nur noch Hindus“, sagt Koshar, denn kein Muslim verlasse sich mehr darauf, im Ernstfall von der Polizei geschützt zu werden. Die habe bei den Ausschreitungen den Verkehr umgeleitet und ansonsten zugesehen, wie Plünderer, Mörder und Vergewaltiger über ihre muslimischen Nachbarn herfielen.
Iljas Kaisiq steht wie jeden Tag hinter seinem Speiseeiswagen im Stadtteil Juhapura. Die Häuser hinter ihm, eine kleine Kolonie von Apartmentblöcken, wurden ebenfalls mit dem Geld einer muslimischen Stiftung für die Vertriebenen der Pogrome von 2002 gebaut. Kaisiq ist mit seinem Job unzufrieden. „Bis vor kurzem bin ich Rikschataxi gefahren“, sagt er. Doch dann habe die Stadtverwaltung von Ahmedabad, bis heute fest in der Hand der BJP, festgelegt, dass gewerbliche Fahrer acht Jahre eine Schule besucht haben müssen. „Allein aus diesem Häuserblock sind 85 Männer deswegen ohne Arbeit“, schimpft er. Die Anordnung der Stadt diene dazu, Muslime aus ihren Berufen zu drängen, ist sich Kaisiq sicher, denn viele muslimische Familien hätten nicht die Mittel, ihre Kinder zur Schule zu schicken.
Tatsächlich ist die soziale Lage vieler Muslime in Indien besorgniserregend. Zum einen hat ein Großteil der muslimischen Elite das Land 1947 bei der Teilung Britisch-Indiens Richtung Pakistan verlassen. Zurückgeblieben sind vor allem die Armen. Die vernachlässigte Infrastruktur und fehlende Mittel für Schulen in muslimisch dominierten Stadtteilen führen dazu, dass ihr Bildungsniveau weit unter dem der Hindumehrheitsgesellschaft liegt.
Ein Blick zeigt, was im Viertel noch im Argen liegt: Viele Straßen sind nicht geteert. In der Regenzeit bilden sich große schmutzige Seen, Seuchen breiten sich aus. Wasserleitungen gibt es hier kaum, der Anschluss ans Stromnetz fehlt. Das Muslimviertel Juhapura ist zum riesigen Ghetto geworden – und das im Bundesstaat Gujarat, der als indischer Wirtschaftswunderstandort gefeiert wird.
Internationale Investoren drängen hierher. Narendra Modi, der umstrittene BJP-Präsident von Gujarat, verspricht ihnen die unbürokratische Abwicklung aller notwendigen Verwaltungsakte. Die Innenstadt von Ahmedabad und viele der Hinduviertel glänzen im neuen Wohlstand: Bistrocafés und Filialen von Fastfoodketten reihen sich an Markenbekleidungsgeschäfte. Gujarats starker Mann hat Autobahnen bauen lassen und brüstet sich damit, dass alle Landesteile über eine stabile Stromversorgung verfügen. Was er dabei verschweigt: In Dörfern und Stadtteilen, in denen Muslime oder Adivasi, Indiens Indigene, leben, wurde nur wenig getan.
„Die BJP macht Politik für Hindus“, bestätigt Anis Mohammad Hussein Desai. Der 40-Jährige ist als einer der wenigen muslimischen Abgeordneten für die Kongresspartei im Stadtrat von Ahmedabad. Desai sitzt im Büro seines Marmorgroßhandels, seine gescheitelten Haare hängen ihm ins Gesicht. „Die Regierung und die Stadtverwaltung unternehmen nichts gegen die Arbeitslosigkeit in den muslimischen Vierteln“, erklärt er. „Die Hinduviertel haben alle Strom, Wasser, Müllabfuhr. Alles das gibt es für die muslimischen Stadtteile nicht.“ Der Opposition im Stadtrat seien bei der Vergabe öffentlicher Gelder die Hände gebunden, die BJP habe in ihrer Regierungszeit die Wahlkreise mit überwiegend muslimischer Bevölkerung zerteilt und an Hinduviertel gehängt. „So können Muslime in aller Regel auch nicht ihre Abgeordneten in den Stadtrat wählen.“
Auch die Bildungspolitik benachteilige die Muslime in Ahmedabad enorm, sagt er. In Juhapura gebe es viel zu wenige öffentlich geförderte Schulen. Und die wenigen hätten kaum Geld, der Unterricht sei miserabel. „Die Leute schicken ihre Kinder in benachbarte Viertel zum Unterricht. Aber dort werden sie oft von Mitschülern und Lehrern schlecht behandelt, weil sie Muslime sind.“ Die einzige gute Schule sei eine christliche Privatschule, aber die biete nur wenige Plätze. Die Chancen auf eine weiterführende Bildung seien noch schlechter: „Es gibt nicht eine einzige weiterführende Schule hier. Das ist ein enormes Problem.“ Dann klingelt sein Handy, ein Kollege aus dem Stadtrat ruft an. Desai wendet sich wieder seiner täglichen Arbeit als Politiker zu.
Am anderen Ende der Stadt, auf der Grenze zwischen den Religionen, werden derweil neue Tatsachen geschaffen. Noor Jahan von der Vereinigung muslimischer Frauen zeigt auf die Hinduseite. Auf einer verwilderten Freifläche ziehen Bauarbeiter neue Apartmentblocks hoch. Die Mauer ist zu einem Teil des Bauprojekts geworden: Die Arbeiter haben sie am Ende des Grundstücks verlängert und nutzen sie als Hauswand. Es scheint, als richteten sich die Menschen von Ahmedabad darauf ein, auf Dauer in einer geteilten Stadt zu leben.