: „Schmerz ist emotional gefärbt“
Die Hamburger Neurologin Ulrike Bingel erforscht, wie Gefühl und Schmerz zusammenwirken. Für weitere Projekte hat ihr das Bundesforschungsministerium jetzt 1,3 Millionen Euro zugewiesen
INTERVIEW PETRA SCHELLEN
taz: Frau Bingel, gibt es objektiven Schmerz?
Ulrike Bingel: Schmerzempfindung ist immer etwas Subjektives. Die hierfür zuständigen Hirnaktivitäten kann man allerdings messen und Korrelate für Schmerzwahrnehmung identifizieren. Trotzdem gibt es keine objektive Messlatte für Schmerz. Es gibt zwar Indikatoren: die Beschleunigung des Pulsschlags und des Atems, Schwitzen. Aber diese körperlichen Reaktionen treten auch bei anderen unangenehmen Gefühlen auf. Für den Schmerz spezifisch sind sie nicht.
Korrelate im Gehirn – das sind?
Muster von Aktivierungen im Gehirn, die bei der Schmerzwahrnehmung auftreten. Konkret heißt das, dass verschiedene Hirnareale zum Gesamterlebnis Schmerz beitragen. Da gibt es sehr unterschiedliche Konstellationen – je nachdem, in welchem Kontext jemand Schmerz erlebt und wie die jeweilige subjektive Erfahrung von Schmerz beschaffen ist. Bei einigen Menschen ist sie zum Beispiel sehr emotional gefärbt.
Gibt es Hirnareale, die bei jedem ansprechen?
Ja. Bei akuten Schmerzen kommt es immer zu einer Aktivierung des Thalamus sowie des primären und sekundären somatosensorischen Cortex. Der Thalamus ist die Pforte ins Gehirn, an der alle sensorischen Informationen einlaufen. Der sensorische Cortex ist das Areal, in das Berührungs- und Schmerzempfindungen hinprojiziert werden.
Welche Hirnareale werden bei manchen Menschen zusätzlich aktiviert?
Je nachdem, wie unangenehm gefärbt ein Schmerzerlebnis ist, kommen Areale hinzu, die für emotionale Verarbeitung zuständig sind. Zum Beispiel die Amygdala und die Frontallappen. Die Amygdala reguliert die Emotionen, während der Frontallappen mit Bewertungen befasst ist: Wie finde ich es, dass ich den Schmerz habe? Habe ich das Gefühl, dass ich diesen Schmerz kontrollieren kann?
Könnte man die Schmerzempfindung also über den emotionalen Aspekt regulieren?
Ja. Es gibt bereits psychologische Strategien, die die Schmerzwahrnehmung beeinflussen sollen. Im Kleinen kann das jeder im Alltag beobachten: Wenn Sie einen James-Bond-Film sehen, bemerken Sie nicht, ob eine Mücke Sie sticht. Wenn Sie sich zuhause langweilen, juckt es dagegen fürchterlich. Dabei ist der Auslöser genau derselbe.
Über welche Schmerzen forschen Sie konkret?
Ich habe bislang hauptsächlich akuten, experimentellen Schmerz bei gesunden Versuchsteilnehmern erforscht. Mit Hilfe der funktionellen Bildgebung haben wir zum Beispiel untersucht, wie und wo akute Schmerzreize im Gehirn verarbeit werden. Wo im Gehirn spiegelt sich wider, wie stark ein Schmerz ist? Wo wird am Körper der Schmerzreiz registriert? Die nächste wichtige und spannende Frage war: Wie funktioniert unsere körpereigene Schmerzmodulation – wenn wir mit Strategien wie Ablenkung der gerichteten Erwartungen Schmerzwahrnehmung verändern? Hier scheint insbesondere das so genannte vordere Cingulum eine besondere Rolle zu spielen.
Ab wann wird ein Schmerz chronisch – und warum?
Die Schwelle ist schwer zu benennen. Aber nach verbreiteten Definitionen spricht man vom chronischen Schmerz, wenn ein Patient länger als sechs Monate unter Schmerzen leidet. Klar aber ist: Etliche Menschen haben zum Beispiel einen Bandscheibenvorfall, aber nur wenige bekommen chronische Rückenschmerzen. Die Frage ist nun: welche? Hier spielen unter anderem psychologische Faktoren – wie Krankheitsverarbeitung, individuelle Strategien der Stressbewältigung, aber auch Faktoren wie Zufriedenheit am Arbeitsplatz und die familiäre Situation eine große Rolle.
Verändern sich bei chronischen Schmerzpatienten Hirnstrukturen?
Ja. Es finden funktionelle und womöglich auch strukturelle Veränderungen statt.
Sind die reversibel?
In einigen Fällen konnten solche funktionellen Veränderungen mit Hilfe einer Schmerztherapie bereits rückgängig gemacht werden. Wie allgemein gültig das ist und ob diese Erfolge wiederholbar sind, wird derzeit noch untersucht.
Was werden Sie mit den 1,3 Millionen tun, die Sie für Ihr Forschungsprojekt bekommen haben?
Ich möchte in den nächsten fünf Jahren – gemeinsam mit einem noch zu akquirierenden Team – Mechanismen der körpereigenen Schmerzmodulation, etwa durch psychologische Faktoren, untersuchen. Außerdem wollen wir die Störfunktion des Schmerzes erforschen. Wenn Sie mal versucht haben, mit Kopfschmerzen die Steuererklärung zu machen, wissen Sie, was ich meine: Der Schmerz, der unmittelbar mit einer Warnfunktion verknüpft ist, stört und unterbricht alles, was im Gehirn gerade los ist und zieht die Aufmerksamkeitsressourcen auf den Warnreiz. Das Problem ist, dass dies beim chronischen Schmerz leider erhalten bleibt – auch wenn die Warnfunktion längst verloren ist. Nach sechs Monaten gibt es, salopp gesagt, eigentlich nichts Bedeutsames mehr zu melden aus dem Rücken. Trotzdem zieht der Schmerz noch so viel Aufmerksamkeit auf sich, dass die Patienten teils sehr beeinträchtigt sind in ihren kognitiven Leistungen: Zeitunglesen, Kreuzworträtsel, die Teilnahme an komplexen Gesprächen – dafür haben sie oft keine Ressourcen. Es ist bislang noch unverstanden, wie es dem Schmerz gelingt, über eine so lange Zeit Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Wie viele Patienten haben chronische Schmerzen?
In Deutschland ungefähr vier Millionen Menschen.
Und denen hilft kein Medikament?
Doch, natürlich. Jedenfalls zum Teil. Dennoch ist die bislang zur Verfügung stehende medikamentöse und psychologische Therapie für viele Patienten immer noch unzureichend. Da besteht in der Tat noch erheblicher Optimierungsbedarf.
Fotohinweis:ULRIKE BINGEL, 33, Neurologin, lernte u. a. in Hamburg. Forscht in Oxford über die Schmerzverarbeitung bei Migränepatienten.