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Archiv-Artikel

Von Fernost in den Westharz

Olympia-Fieber in der chinesischsten Stadt Deutschlands: In einem Partykeller in Clausthal-Zellerfeld schauen Studenten bei Flips und Bier die Eröffnung der Spiele. Der Ruf der Technischen Universität hat sie aus China ins Mittelgebirge gelockt

AUS CLAUSTHAL-ZELLERFELD KAI SCHÖNEBERG

„San – er – yi – ling“ rufen sie den Countdown mit, der am Freitag um 14.08 Uhr die olympischen Spiele eröffnet. „3 – 2 – 1 –0.“ Vielleicht 20 Chinesen haben sich im Studentenwohnheim 9 im Bohlweg versammelt und schauen sich die Eröffnungsshow im Fernsehen an. Zur Feier in Peking wird im Partykeller geklatscht und geraunt, die Chinesen stehen auf und singen mit glänzenden Augen ihre Nationalhymne. Sie reichen westliches Beiwerk: Krombacher, Fanta, Flips und Chips.

Wir sind in der chinesischsten Stadt Deutschlands: Clausthal-Zellerfeld. Seine Hochschule hat das Harz-Städtchen zum universitären Vorposten des Reichs der Mitte in Deutschland gemacht. Jeder fünfte der 3.100 Studenten der Technischen Universität kommt aus China, nirgendwo ist der Anteil größer. In der Stadt mit 15.000 Einwohnern gibt es mittlerweile sogar drei chinesische Lebensmittelläden.

„Clausthal ist in China sehr bekannt“, sagt Jianx Yin. Der 24-Jährige studiert seit drei Jahren Geo-Umwelttechnik im norddeutschen Mittelgebirge. Eigentlich kommt er aus Tian Yin, einer „10-Millionen-Stadt bei Peking“. Den Rummel vermisst Yin nicht: „Ich bin hier, um zu lernen, nicht zum Feiern“. Die 1775 gegründete Bergakademie Clausthal gehört für fernöstliche Akademiker-Kreise wegen ihrer Maschinenbau-, Informatik- und Wirtschaftsstudiengänge zu den viel gerühmten „ABC-Universitäten“: Aachen, Berlin – und eben Clausthal.

„Seit der politischen Öffnung studieren immer mehr Chinesen an die TU“, sagt Hochschul-Sprecher Christian Ernst. Auch, dass von 1985 bis 1991 der amtierende Forschungsminister Wan Gang im Harz promoviert hat, sorgt für stetigen Studentenzustrom aus China. Inzwischen hat die TU dort acht Partner-Hochschulen. Ende des Jahres eröffnet die Uni ein „Internationales Zentrum“ mit Akademischem Auslandsamt, Räumen für Sprachkurse, Räumen für Ausstellungen und einem „Begegnungszentrum“.

Vorteilhaft finden die Chinesen, dass es in Clausthal keinen Numerus Clausus gibt. Auch die Studiengebühren von 500 Euro pro Semester erscheinen im Vergleich zu den bis zu 30.000 Dollar, die an einer Elite-Uni in den USA zu zahlen wären, lächerlich gering. Insgesamt hat sich die Zahl chinesischer Studenten in Deutschland in den vergangenen zehn Jahren sogar auf 25.000 verfünffacht. Wenn die TU die zur Aufnahme notwendigen Sprachtests nicht verschärft hätte, gäbe es wohl mehr als 600 Chinesen im Harzstädtchen.

Die Chinesen kommen, die Deutschen gehen. Am zentralen Clausthaler Kronenplatz, wo der Bus aus Goslar nach einer Fahrt durch Tannenwälder und Serpentinen hält, steht ein Bauwagen, Aufschrift: „Oberharz – einst Schatzkammer Deutschlands, heute Armenhaus Niedersachsens“. Jeden Montag demonstrieren die Clausthaler hier für eine Bürgschaft, die das Land für eine Solarfabrik in Clausthal gewähren soll. Während die Region im einstigen Zonenrandgebiet unter Arbeitslosigkeit und Abwanderung leidet, ist sie für viele Chinesen zum Startpunkt ihrer Karriere geworden.

Heimweh ist im Studiengang inklusive. „Ich vermisse die Eltern, die Freunde, das Essen“, sagt Lu Wang. Die 27-jährige Maschinenbauerin aus Fuxin in Nordchina sagt vorsichtig, dass der „deutsche Geschmack ein bisschen anders ist“. Meistens kocht sie deshalb im Studentenwohnheim anstatt in der Mensa zu essen. Deutsche Freunde hat sie nicht. Es gebe deutsch-chinesische Paare, sagt Yin, aber er kenne keine einzige deutsche Frau, die mit einem chinesischen Mann liiert ist.

Bei aller Höflichkeit, die wenig Schlechtes auf Clausthal kommen lässt, gibt Lu zu, dass sie sich auch in Hannover und Hamburg um einen Studienplatz beworben hat. „Clausthal ist aber auch gut“, sagt Lu: „Es gibt hier gute Luft.“ Yin sagt, „es ist leise und man kann sogar das Leitungswasser trinken“. Während sich Lu über die „unfaire“ Berichterstattung des Westens über ihr Heimatland ärgert, hofft er, dass „Olympia China näher an den Westen heranrücken lässt. In Sachen Demokratie ist Deutschland weiter als wir“.

Aber eigentlich haben die Spiele für ihn mit Politik nichts zu tun. Yin jubelt, als der Basketballer Yao Ming für die chinesische Mannschaft die Fahne ins Stadion trägt, sein Kumpel Lei Zhou, 23, freut sich auf den Hürdenläufer Lin Xiang. „Eure Aufklärung ist 200 Jahre her“, sagt Yin. „Lasst uns einfach noch ein paar Jahre Zeit“.