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Archiv-Artikel

Hey, Maestro, sie sind am Tanzen!

Unter dem Namen Señor Coconut brachte der Musiker Uwe Schmidt einen der uncoolsten Rhythmen in die Clubs: den Cha-Cha-Cha. Am Freitag bot er mit achtköpfiger Band beste Old-School-Unterhaltung in der Kulturbrauerei

Es sieht aus, als habe sich ein Tanzorchester alter Schule in das Kesselhaus der Kulturbrauerei verirrt. Drei Bläser hinter Notenaufstellern, zwei Perkussionisten, Vibrafon und Marimba stehen auf der Bühne, dazu ein elektrischer Kontrabass. Ein Sänger mit roter Krawatte und schwarzem Hemd schlägt den Cha-Cha-Cha auf einer Kuhglocke. Im Rücken der Band steht ein Herr im Anzug und in tadelloser Haltung auf einem Podest, vor sich ein aufgeklappter Computer. Manchmal wendet er sich mit einer leichten Drehung einem Musiker zu, der gerade soliert, eine Hand am Rechner. Hin und wieder spricht er – für das Publikum nicht hörbar – in ein Mikrofon, das neben dem Podest angebracht ist, und dann ändert sich die Musik.

Uwe Schmidt heißt der Mann am Computer, er hat sich das Orchester ausgedacht. Als wäre er durch seinen echten Namen nicht schon ausreichend anonymisiert, hat Schmidt unter mehr als 50 Pseudonymen Platten veröffentlicht – von AtomTM über Lisa Carbon bis Erik Satin. Señor Coconut ist seine bekannteste Inkarnation. Schmidt wollte einmal ausprobieren, was passiert, wenn man elektronische und lateinamerikanische Musik zusammenbringt.

Das war vor über zehn Jahren, und er war gerade von Frankfurt nach Santiago de Chile ausgewandert. Bekannt wurde Schmidt von Südamerika aus mit dem zweiten Coconut-Album „El baile alemán“, für das er ausschließlich Kraftwerk-Songs eingespielt hatte, ausgerechnet als Cha-Cha-cha. Auf „Fiesta-Songs“ wandte er das Prinzip auf Pop-Klassiker von „Smooth Operator“ bis „Smoke on the Water“ an. Señor Coconut brachte einen der uncoolsten Rhythmen in die Clubs. Nach zwei weiteren Platten kann sich das Orchester – um es einmal genretypisch auszudrücken – aus einem Strauß bunter Melodien bedienen.

Die achtköpfige Band ist top eingespielt und bietet mit tighter Bläsersektion Unterhaltung im besten Old-School-Sinne. Sänger Argenis Brito ist der einzige Latino, die anderen Musiker stammen aus Kassel, Frankfurt, Köln und Hamburg. Der in Berlin lebende Venezolaner sieht ein wenig aus wie Joachim Król und fungiert als Einpeitscher. „Sweet Dreams“, „Show Room Dummies“, „Kiss“, „Da da da“ – immer wenn man gerade das Gefühl hat, jetzt wird Brito aber ein bisschen sehr fordernd, verteilt er charmant Komplimente an das Publikum. Gleichzeitig ist er das Bindeglied zwischen Zuschauern und dem entrückten Mastermind: „Maestro, they are dancing.“

Dann gibt es diese irritierenden Momente. Als „Tour de France“, ein treibender Merengue, schon eine Weile läuft, setzt die Band komplett aus, Schmidt spielt ein Solo. Für ein paar Übergangstakte ist er in ein gleißendes, unwirklich silbriges Licht getaucht, das Hologramm eines streng dreinschauenden Herrn. Aus dem Laptop ertönen Blieps und Britzelgeräusche, verfremdete Percussion und Soundhackschnitzel, scharf und schnell arrangiert. Lichtwechsel: Plötzlich wird Schmidt stroboskopartig aus wechselnden Winkeln rundum angeblitzt, ein Wirbel der Künstlichkeit, und für einige surreale Momente sieht es aus, als würde der Maestro zappeln, ohne sich auch nur zu regen. Was für eine Inszenierung! Sie ist der heimliche Höhepunkt des Abends, auch wenn nach dem Stück erst noch die Hits drankommen: „Riders in the Storm“ und „Beat It“ als Merengue, „Smoke on the Water“ radiobewährt als entspannter Cha-Cha-Cha.

Den Schluss bildet Kraftwerks „Autobahn“, das – wenn man es nur spanisch genug ausspricht – klingt wie „Autowahn“. Es wird getanzt, vielleicht mehr aus den Knien als aus der Hüfte. Wie hatte Brito das zwischendurch einmal genannt? „Sabor alemán“, deutsches Aroma. Das klingt für Latino-Ohren ein wenig nach eingeschlafenen Füßen – es kann aber auch als Kompliment gemeint sein. Eine kleine Zweideutigkeit ganz im Sinne des Maestro. MARTIN KALUZA