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Archiv-Artikel

Die „Fliegen“-Klatsche

Liu Xiangs Hürdenlauf sollte für China der Höhepunkt dieser Olympischen Spiele werden. Doch kurz nach dem Start muss der Leichtathletik-Superstar wegen einer Verletzung aufgeben

CHINAS MEDAILLEN

1984 in Los Angeles:15 Gold, 8 Silber, 9 Bronze 1988 in Seoul: 5 Gold, 11 Silber, 12 Bronze 1992 in Barcelona: 16 Gold, 22 Silber, 16 Bronze 1996 in Atlanta: 16 Gold, 22 Silber, 12 Bronze 2000 in Sydney: 28 Gold, 16 Silber, 15 Bronze 2004 in Athen: 32 Gold, 17 Silber, 14 Bronze 2008 in Peking (bisher): 39 Gold, 14 Silber, 14 Bronze

China nimmt mit Unterbrechungen seit 1936 an den Olympischen Spielen teil. Zum ersten Mal aufs Treppchen schafften es chinesische Sportler jedoch erst 1984 in Los Angeles. Im ewigen Medaillenspiegel, bei dem auch die bei den Winterspielen errungenen Medaillen einfließen, belegt China mit insgesamt 386 Medaillen zurzeit den neunten Platz. Hier führen die USA mit 2.472 Medaillen vor Russland (1697) und Deutschland (1570). 39 Goldmedaillen haben die Chinesen bis gestern Abend gewonnen. Bis zum Ende der Spiele, wenn alle 305 Entscheidungen gefallen sind, werden sie auch US-Amerikaner weit hinter sich gelassen haben und damit erstmals die Nummer eins der Nationenwertung sein. JUL

AUS PEKING MARKUS VÖLKER

Eine Schockwelle ging durch das Olympiastadion. Der Held der chinesischen Leichtathletik hatte aufgegeben. Er zog sich die Startnummer von den Oberschenkeln und ging von der Bahn. Fassungslos waren seine Fans. Sie konnten nicht glauben, was sie da sahen. Liu Xiang, Olympiasieger von Athen über 110 Meter Hürden, machte 91.000 Zuschauer traurig. Tränen flossen. Sie wollten ihr Idol siegen sehen. Jetzt war er draußen. Wegen einer Verletzung an der Achillessehne.

Es klingt vielleicht pathetisch, aber gestern hing ein Schleier des Bedauerns über der Sportnation China. Liu ist neben dem Basketballer Yao Ming der beliebteste Sportler Chinas. Sein Ausscheiden war Stadtgespräch. Überall, ob in den U-Bahnen, im Taxi, auf der Straße oder auf dem Olympiagelände, ging der Satz um: „Hast du schon gehört? Liu ist draußen.“ – „Liu Xiang, nein, das gibt es doch nicht?“ Ungläubigkeit. Entsetzen. Niedergeschlagenheit. Selbst Sportmuffel sollen berührt gewesen sein.

Der schmale Sprinter genießt im Land der Gastgeber eine Popularität, die kaum zu ermessen ist – schließlich hatte er es 2004 als erster Chinese geschafft, Olympiagold in der Leichtathletik zu gewinnen. Das Finale über 110 Meter Hürden am Donnerstag galt als ein Höhepunkt der Spiele. 1,3 Milliarden Menschen waren gespannt auf das Duell Lius mit seinem kubanischen Kontrahenten Dayron Robles. Jetzt findet der Endlauf ohne den Mann aus Schanghai statt. Es ist eine herbe Enttäuschung, nein, es ist ein „nationales Desaster“, wie die amerikanische Zeitschrift Sports Illustrated ganz richtig analysierte. Der olympische Fokus war auf Liu gerichtet. Man erwartete nichts anderes von ihm als die Titelverteidigung. „Ich spüre den Druck kaum“, hatte Liu im Vorfeld der Spiele gesagt. „Ich bin mir selbst der beste Psychologe“. Er mag mental stark sein, gegen seine Verletzung aber ist er machtlos.

Dabei sah es am Morgen noch gut aus. Liu befand sich im Startfeld seines Vorlaufs. Er machte ein paar Sprintübungen, aber schon da war zu sehen, dass etwas nicht stimmte. Er verzog das Gesicht, strich sich skeptisch mit seiner Hand durch die Haare. Dennoch schob er sich in den Startblock, ging ins Rennen. Der Starter schoss zweimal in die Luft: Fehlstart. Danach passierte es: Der Star verließ das Stadion, wortlos. Die Verletzung war also doch zu schwer.

Chinas Sportfans waren ja darauf vorbereitet, dass Liu nicht zum Titel fliegen und somit seinem Vornamen Xiang alle Ehre machen würde; der Name Xiang bedeutet auf Chinesisch „Fliege“. Sie wussten, dass er mit körperlichen Problemen kämpfte. Sein Coach Sun Haiping hatte am Sonntag im Internet geschrieben, dass sein Schützling Schmerzen habe. Aber von Aufgeben war keine Rede. Liu wollte sich ins Finale mogeln und dort sehen, was möglich ist. Es ging schließlich um eine nationale Aufgabe, die Liu zu erfüllen hatte.

Er wollte dem Land etwas zurückzahlen. Denn Lui Xiang ist mit seinen Hindernisläufen ein reicher Mann geworden. Das Wirtschaftsmagazin Forbes führt ihn hinter Yao Ming mit einem jährlichen Einkommen von 23,8 Millionen Dollar. Er wirbt für Coca-Cola, Nike, Visa und leiht den Kampagnen von Yili und Baishi, einem chinesischen Tabakkonzern, das Gesicht. Im Westen musste er sich deswegen geharnischte Kritik gefallen lassen; die Süddeutsche Zeitung schrieb nach Bekanntwerden von Lius Werbung für Glimmstängel: „Reklame laufen für Sargnägel“. In China nimmt ihm das kaum einer übel. Sie bewundern die Geschichte des Aufsteigers aus bescheidenen Verhältnissen, der es bis in die „politische Konsultativkonferenz“ geschafft hat, eine Art Volkskammer.

In China ist seine Geschichte hinlänglich bekannt: Der Sohn einer Kellnerin und eines Busfahrers beginnt mit sieben Jahren Sport zu treiben. Eigentlich will er Basketball spielen, doch eine Sichtung bringt ihn zur Leichtathletik. Erst versucht er es im Hochsprung. Eine Vermessung der Knochen ergibt jedoch, dass Liu nicht groß genug werden würde für diese Disziplin, also wechselt er auf die Hürdenstrecke. Legendär ist sein Trainer Sun Haiping, der ihn in den letzten zwölf Jahren betreut hat. Sun versichert den Eltern, dass Liu bei den Leichtathleten gut aufgehoben und gut ernährt wird – und dass die Eltern kein Geld fürs Training des Talents zahlen müssen.

Sun, der für seine Dienste eine Wohnung für 200.000 Dollar von Liu geschenkt bekommen hat, formt aus dem mageren Burschen einen Siegläufer. Der wird tatsächlich von Jahr zu Jahr schneller, gewinnt 2002 die Asienspiele und Asienmeisterschaft. In Athen schlägt seine große Stunde. In Weltrekordzeit wird Liu Olympiasieger. Nur einmal ist der 1,89 Meter große Athlet noch schneller, 2006 in Lausanne, als er 12,88 Sekunden schnell rennt. Den Rekord hat ihn im Juni allerdings der Kubaner Robles abgejagt; er war eine Hundertstelsekunde fixer.

Feng Shuyong, der Cheftrainer der chinesischen Leichtathleten, versuchte gestern, Worte für das Geschehene zu finden: „Die Schmerzen müssen groß gewesen sein, sonst hätte er nicht aufgegeben.“ Bis Samstag sei er in guter Form gewesen. Er hoffe, alle Chinesen hätten Verständnis für die Situation, für den maladen Helden. Es war eine Entschuldigung an die chinesische Sportnation. Mehr konnte Herr Feng nicht tun.