Im Vokabular des Anderen

Bezeichnet „Heimat“ einen Ort oder nur den eigenen Körper? Danach fragt das Stück „Future?“, mit dem Faustin Linyekula, der in Kinshasa ein Zentrum für zeitgenössischen Tanz leitet, nach Berlin kam

VON ASTRID HACKEL

Eigentlich sei er ein Storyteller, erklärt Faustin Linyekula auf der Bühne im Podewil, aber heute würde er ausnahmsweise keine Geschichten erzählen, sondern einfach nur tanzen. Zur Livemusik von Flamme Kapaya, einem begnadeten Sologitarristen aus Kinshasa. Das Gleiche gelte für seinen Partner Michael Ihnow, der schließlich auch nur ein Tänzer sei.

Wenn man Linyekula schon ein wenig kennt, weiß man, dass man sich nach so einer Ankündigung auf eine Überraschung gefasst machen kann. Und tatsächlich wartet der international gefeierte Tänzer und Choreograf aus der Demokratischen Republik Kongo noch einmal mit einem besonderen Geburtstagsgeschenk auf, bevor „Tanz im August“ am Sonntag zum zwanzigsten Mal zu Ende geht.

Mit seinem Stück „Future?“ fragt er nicht nur nach der Zukunft der drei beteiligten Künstler, sondern auch nach der Zukunft eines Festivals, das noch nie so erfolgreich war wie in diesem Jahr und selten ein so abwechslungsreiches Programm zu bieten hatte. Es kann auch deshalb als vorweggenommener Abschluss gelten, weil an diesem Punkt noch einmal an die zentralen Themen der diesjährigen Veranstaltung gerührt wurde. Wo komme ich her? Wo gehe ich hin? Bezeichnet „Heimat“ einen Ort oder nur den eigenen Körper?

Die Radikalität, mit der „Tanz im August“ unterschiedliche Tanzkulturen wie klassisches Ballett und Urban Dance in diesem Jahr aufeinandertreffen ließ, wurde in „Future?“ auf die unmittelbare Konfrontation zweier Tänzer zurückgeführt. Der fast 40-jährige Balletttänzer Michael Ihnow kann seine lange Ausbildung einfach nicht abschütteln. Sie spricht aus jeder seiner Bewegungen. Der gut fünf Jahre jüngere Linyekula hingegen ist ein Autodidakt, dessen Bewegungen von innen herauszukommen scheinen. Während der eine der Schwerkraft zu widerstehen versucht, ist sie für den anderen essenziell.

„Future?“ ist die Begegnung zweier neugieriger Tänzer auf Augenhöhe. Das unterscheidet diese Arbeit von Jérôme Bels einige Jahre zurückliegender Produktion „Pichet Klunchun and myself“. Der wortlastige, kulturelle Dialog, in den der belgische Choreograf mit dem thailändischen Tänzer treten wollte, scheiterte an der Attitüde des überlegenen Westeuropäers mit dem silbergrauen Notebook. Linyekula geht es darum, auf den Tanz als eine Ausdrucksform jenseits der Worte zurückzukommen. Das ist der entscheidende Unterschied zu Bels eurozentrischem Ansatz. Die Begegnung von Linyekula und Ihnow konzentriert sich ganz auf den Austausch zweier verschiedener Tanzsprachen und den Versuch, das Grundvokabular des anderen zu erlernen. Diese persönliche Annäherung lebt vom nonverbalen Dialog zwischen Tänzern und Musiker. Mehrmals entschuldigt sich Linyekula beim Publikum, weil er sein anfängliches Versprechen, keine Geschichten zu erzählen, nicht hält. Aber wie auch, handelt „Future?“ doch von nichts anderem als der Unmöglichkeit, zu tanzen, ohne eine Geschichte zu erzählen. Schließlich sind es die individuellen Prägungen, Erfahrungen und Konflikte, die hier in Bewegungsmuster übersetzt werden, von denen sich Ihnow und Linyekula nach so langer Zeit nicht lösen können. Mal sind sie sich ferner, mal näher – synchron bewegen sie sich nie.

Es geht in dem Stück, das ein Fragezeichen schon im Titel hat, auch um die Schwierigkeiten und Sackgassen im Umgang miteinander. Immer wieder gibt es Situationen, in denen nicht ganz klar ist, wie es weitergeht. Können, ja müssen wir überhaupt zusammenkommen?, wird an einer Stelle gefragt. Doch gerade das Unfertige, zum Teil Holprige und die wiederkehrenden Momente der Ratlosigkeit verleihen dem Stück seine Glaubwürdigkeit.

Getragen wird der Abend von Kapayas wunderschönen Gitarrenriffs. Seine reduzierten Ndombolo-Pattern, eine Art kongolesische Rumbavariante, die traditionelle Musikstile, satten Funk, Pop und das Lebensgefühl der Großstadtkids aus Kinshasa vereint, vermitteln eine leise Ahnung von dem Chaos einer 8-Millionen-Einwohner-Metropole nahezu ohne Infrastruktur. Auch nach ihrer Zukunft wird gefragt.

Aber obwohl Faustin Linyekula sein Land immer wieder als Scherbenhaufen bezeichnet, ist er nach Jahren in Kenia und Westeuropa dahin zurückgekehrt. In Kinshasa hat er mit Les Studios Kabako das erste Zentrum für zeitgenössischen Tanz und visuelles Theater in der Demokratischen Republik Kongo gegründet. Für die zutiefst menschlichen und paradoxen Erzählungen, die seinen Arbeiten zugrunde liegen, wurde er jüngst mit dem Principal Prince Claus Award ausgezeichnet.

Am Ende des Abends entschuldigt sich Linyekula noch einmal: „I’m just a dancer.“ Dabei ist unmissverständlich klar geworden: Er ist viel mehr als das.

Tanz im August, bis 31. August, Programm unter www.tanzimaugust.de