: Misstrauensvotum
AUS KABUL THOMAS RUTTIG
Ab heute wird die Afghanische Nationalarmee (ANA) schrittweise die Verantwortung für die Sicherheit in Kabul von der Nato-geführten Isaf-Truppe übernehmen. Die Hauptstädter werden davon wenig mitbekommen. Höchstens, dass sich die ANA mit mehr Patrouillen stärker als bisher ins Bild setzen wird. Nicht einmal eine ursprünglich geplante Zeremonie wird stattfinden. Die Nato-Truppen werden im Hintergrund präsent bleiben.
Denn die afghanischen Sicherheitskräfte haben in den vergangenen Monaten erhebliche Löcher gezeigt: Der Anschlag auf die indische Botschaft im Juli und ein Attentat auf Präsident Karsai dokumentieren dies. Bei der Untersuchung stellte sich heraus, dass hohe Offiziere des Innenministeriums die Attentäter unterstützt hatten. Es entstand erheblicher Zweifel, ob die ANA und die Polizei der neuen Aufgabe wirklich gewachsen sind.
Laut dem Kabuler Verteidigungsministerium sollten nur die Nato-Ausbilder für ANA und Polizei, die Kommandostellen und der Logistikbereich in Kabul verbleiben: die Hauptquartiere der US-Truppen gegenüber der deutschen Botschaft und von Isaf, das Camp Warehouse, in dem viele Isaf-Soldaten stationiert sind, sowie der militärische Teil des Internationalen Flughafens von Kabul. Ein solcher Umbau würde wohl die Kampffähigkeit der Truppe beeinträchtigen.
Die Stabübergabe an die ANA sollte eigentlich demonstrieren, dass die Karsai-Regierung eigenständig handlungsfähig wird. Dass alles nun ohne Aufhebens stattfindet, macht den Vorgang zu einem Misstrauensvotum und zum Eingeständnis, dass die westlichen Pläne weit hinter den selbstgestellten Zielen hinterherhinken. Die Äußerung des ehemaligen Kabuler Polizeichefs General Babadschan gegenüber der Zeitung Kabul Weekly, die Übergabe zeige, „dass der westliche Stil, die Sicherheit in Kabul zu gewährleisten, nicht effektiv war“, zeugt sogar von Selbstüberschätzung auf der afghanischen Seite.
Seit dem Wochenende verschärft sich zudem der Ton zwischen der Karsai-Regierung und den USA. Ende letzter Woche waren bei zwei US-Luftangriffen insgesamt 130 Zivilisten umgekommen. Die UNO hat diese Angaben der afghanischen Regierung bestätigt. Daraufhin beschloss das Kabinett, Verhandlungen mit Vertretern der Weltgemeinschaft aufzunehmen, damit, so Karsai-Sprecher Homajun Hamidsada, „Luftangriffe auf zivile Ziele, unabgesprochene Hausdurchsuchungen und illegale Festnahmen afghanischer Zivilisten“ beendet werden. Bisherige Forderungen nach Mäßigung seien „ignoriert worden“. Hamidsada kündigte ferner an, die Regierung wolle die ausländischen Truppen „unter afghanisches Gesetz“ bringen. Dazu soll ein Entwurf im Parlament lanciert werden, wo die Stimmung bereits seit längerem kocht. Eine Abgeordnete hatte letzte Woche den Protest mehrerer hundert Stammesführer aus der Provinz Logar angeführt, die ebenfalls bombardiert worden war. Sprecher Hamidsada sagte aber auch, man wolle keinen Truppenabzug: „Das ist weder unsere Forderung noch die unserer Bevölkerung, denn wir müssen unsere Armee stärken, bevor wir in der Lage sind, unser Land eigenständig zu verteidigen.“ Von Nato-Seiten hieß es kühl, man sei vom Ansinnen einer Neuverhandlung bisher nicht notifiziert worden.
Washington hatte sich bisher nicht daran interessiert gezeigt, ein international übliches Status-of-forces-Abkommen mit Kabul abzuschließen, dass das Mandat der US-Truppen festschreiben würde. Die Stationierung der US-Truppen der Operation „Enduring Freedom“, die nicht Isaf unterstehen, beruht hingegen auf einer bilateralen „Erklärung über strategische Partnerschaft“ von Mai 2005, die den USA weitgehend freie Hand ließ. Bisher erhob vor allem die afghanische Opposition die Forderung nach einer Neuregelung. Es scheint, dass Karsai dem nun folgt.
Das hat vor allem mit den 2009 bevorstehenden Präsidentschaftswahlen zu tun. Karsais Ansehen ist im Sinkflug. Aufständische Taliban porträtieren ihn erfolgreich als „Marionette der Amerikaner“. Eine Untersuchung der Konrad-Adenauer-Stiftung unter 1.050 Einwohnern der Provinz Kabul ergab, dass nur 17 Prozent Karsai wieder wählen würden. 2005 lag er landesweit bei knapp 55 Prozent. Die Stabübergabe in Kabul sollte auch eine Wahlkampfhilfe der Nato für Karsai sein. Auch daraus ist nichts geworden.