Die sieben Siegel

911: Einige vermuteten hinter dem Datum des 11. September (im englischen 9/11, „nine-eleven“) eine versteckte Botschaft. Einen Hinweis kann man darin sehen, dass 911 („nine-one-one“) die Telefonnummer des Notrufs der USA ist. Einige Verschwörungstheoretiker interpretieren dies zum Beispiel als einen Aufruf an das amerikanische Volk, Hilfe zu holen, also aufzurüsten, um sich zu schützen.

23: Die Dreiundzwanzig sowie ihre Quersumme, die Fünf, werden in Robert Anton Wilsons und Robert Sheas Romanreihe, der Trilogie „Illuminatus“ (1969–1971) in einer selbst erdachten Numerologie als Zahlen des Unglücks, der Zerstörung sowie nicht zuletzt der Illuminaten bezeichnet. Die Anregung zu dieser Mystifikation bekamen die Autoren durch die Kurzgeschichte „23 Skidoo“, die William S. Burroughs im Jahr 1967 veröffentlichte. Die Illuminaten bestehen, so die gängigen Verschwörungstheorien, aus den reichsten und mächtigsten Menschen der Welt. Sie sollen viele Tarnorganisationen besitzen, die sie entweder selbst gegründet oder infiltriert haben.

Hat man erst einmal angefangen, nach der Zahl 23 zu suchen, findet man sie erstaunlich oft: Das W in George W. Bushs Name zum Beispiel ist der 23. Buchstabe des Alphabets. Ein Hinweis für einige, dass er Mitglied der Illuminaten ist. Auch die Quersumme von 9/11 ergibt 23: 11. 9. 2001 (11 + 9 + 2 + 0 + 0 + 1 = 23). Die Hausnummern des World Trade Center waren 11 und 12 (= 23). Das Pentagon ist ein Fünfeck, und am 20. 3. 2003 um 2:30 Uhr (GMT) eröffnete George W. Bush den Irakkrieg. Man kann die 23 aber auch in der deutschen Geschichte finden. Die Kuppel des Reichstagsgebäudes zum Beispiel ist 23,5 Meter hoch, und die BRD wurde am 23. 5. 1949 (Quersumme von 1949 ist 23) gegründet.

666: Sechshundertsechsundsechzig ist eine biblische Zahl der Johannesoffenbarung, die im Rahmen des Okkultismus und der Zahlenmystik besondere Bedeutung hat. Sie wird auch als Zahl des Tieres oder Zahl des Antichristen bezeichnet. Die Johannesoffenbarung ist die einzige prophetische Schrift des neuen Testaments. Hier werden vor allem Prophezeiungen über die Apokalypse gemacht.

Moderne Deutungen verbinden durch umfangreiche Rechnungen und Wortumstellungen die Zahl 666 mit allen möglichen Namen und Begriffen: Nimmt man etwa A = 100, B = 101, C = 102 …, dann ergibt die Buchstabenfolge HITLER: 107 + 108 + 119 + 111 + 104 + 117 = 666. Im ASCII-Code (American Standard Code for Information Interchange) ergibt die Quersumme von „Bill Gates III“ auch 666. Dieser standardisierte amerikanische Code wandelt Steuerzeichen, Buchstaben und Ziffern um. Er ermöglicht damit den Datenaustausch zwischen verschiedenen Hard- und Softwaresystemen. MAB

Jenseits kühler mathematischer Logik treiben Zahlen ihr Unwesen in Märchen, Zaubersprüchen und Traumdeutungen. Sie sind dann zwar nicht mehr ganz geheuer – aber eben ungeheuer wirkmächtig

VON GINA BUCHER

Den Buchhaltern und Börsengängern sind sie täglich Brot, vielen Schülern ein Verhängnis und Glücksspielern das Verderben: Die Zahlen sind den einen die genialste Erfindung der Menschheitsgeschichte und Lösung vieler Probleme. Anderen sind sie Stoff für Legenden –und vielen auch nicht ganz geheuer.

Denn Zahlen sind weit mehr als trockene Ziffern, die abstrakte Verhältnisse der Art „π = 3,14159…“ zu resümieren wagen.

In den Stadtmauern Babylons, den Hinterzimmern griechischer Mathematiker und bei hebräischen Gelehrten begannen Zahlen ein Eigenleben, das bis heute Stoff für zahlreiche Geschichten ist. Dort sprachen ihnen Magier und Wahrsager magische Eigenschaften zu, chiffrierten Kriegsminister geheime Botschaften und verkleideten Poeten Zahlen in Chronogramme. Auch heute vergnügen sich Zahlen jenseits mathematischer Logik nach wie vor in den Esoterikabteilungen einschlägiger Buchhandlungen, in jenen Internetforen mit den sündhaft teuren Telefonhotlines und auf abgelegenen Alpen in Intensivseminaren – wahlweise zu taoistischer, Pflaumenblüten- oder Engel-Numerologie.

Doch nicht nur Zahlenmystik und Volksglauben laben sich seit Jahrtausenden an der Aura der Zahlen. Ebenso profitieren Geheimsprachen von ihrer Diskretion und bedienen sich Märchen am Zahlenschatz.

Aller guten Dinge sind drei. Das wissen nicht nur jene, die „nicht bis drei zählen können“, das wussten auch die Brüder Grimm. Das Grimm’sche Wörterbuch kennt für den Begriff „Zahl“ neben anderen die Bedeutung von „Anweisung und Lehre“. In drei Episoden wird das tapfere Schneiderlein geprüft, bei Rumpelstilzchen spinnt die Müllerstochter dreimal Stroh zu Gold, Aschenputtel entkommt dreimal dem Königssohn, während bei Schneewittchen die Dreierformel „Weiß wie Schnee, rot wie Blut, schwarz wie Ebenholz“ lautet.

Eine praktische Zahl, die die Lösung des Konflikts hinauszögert: Erst nach zwei Prüfsteinen wird der dritte der entscheidende sein. Die Drei ist nicht nur handlungsbildend, sondern auch Grundlage für das menschliche Dasein. Als „Vater, Mutter, Kind“ steht sie für die Idee der Familie, mit „Jugend, Reife und Alter“ für jene des Lebens und mit „Sonne, Mond und Sterne“ für den Kosmos.

Während hinter den sieben Bergen die sieben Zwerge auf Schneewittchen warten, erlegt das tapfere Schneiderlein sieben Fliegen auf einen Streich, und die sieben Geißlein gewinnen gegen den bösen Wolf – vereinigt man die männliche Drei mit der weiblichen Vier, entsteht die heilige Sieben. Eine runde Totalitätszahl, die sich auch gut für Jahresfristen eignet, denn auf sieben gute Jahre folgen sieben schlechte, wie der Volksmund weiß. Diese spricht ferner von den sieben Weltwundern und dem Buch mit sieben Siegeln. Ebenso hat sich die Sieben bei den Freimaurern bewährt, sie sprechen den Menschen sowohl sieben Haupttugenden als auch sieben Hauptfehler zu – der Bibel ist die Sieben heilig, die Todsünden, Sakramente und Tugenden sind ihrer jeweils sieben.

Dass Schneewittchen „tausendmal schöner“ ist als die anderen, kommt nicht von ungefähr. Denn hundert meint viel, und tausend entsprechend sehr viel oder gar: unzählig viel!

Wenn der König nur zwölf der dreizehn Feen einlädt, belegt die Vergessene Dornröschen mit einem Fluch. Und nur die zwölfte wird die Verwünschungen der sich rächenden Fee abmildern können. Was die Enkel zum Zuhören verdammt, fassen die Erzähltheoretiker als „Gesetz des Überzähligen“ zusammen: Das Glück winkt oft nur bei runden Summen – eine zusätzliche Ziffer irritiert ihre Harmonie.

Plus eins, und es schlägt dreizehn. Laut einer Allensbach-Studie fürchten sich achtundzwanzig Prozent der Deutschen vor ihr, weltweit verzichten viele Wolkenkratzer auf die dreizehnte Etage und Airlines auf die dreizehnte Sitzreihe. Selbst überzeugte Rationalisten zögern am Freitag, dem dreizehnten, wenn ihnen eine schwarze Katze über den Weg läuft. Unglück bringt die Dreizehn, weil sie die Harmonie der vollkommenen Zwölf stört. Im Orient mag man über solcher „Triskaidephobie“ (Angst vor der Dreizehn) lachen, dort bringt die Zahl Glück, und im Judentum stieg die Dreizehn gar zur heiligen Zahl auf. Für das Glück im Christentum ist dagegen die Vier zuständig. Nach einer Legende brachte Eva vierblättrigen Klee aus dem Paradies in die böse Welt. Ein kleiner Hoffnungsschimmer, nach dem sich immer noch viele bücken.

Die Bedeutung und Verwendung der Zahlen variiert je nach Kultur und Religion. Die Olympiade in Beijing begann nicht ohne Grund am 8. 8. 2008 um 8:08 Uhr und 8 Sekunden. Die Zahl Acht ist hierzulande so unspektakulär, wie sie in China eine Glückszahl ist. Ausgesprochen klingt sie ähnlich wie das chinesische Wort für „reich werden“. Entsprechend oft wird sie in Haus-, Telefonnummern und Autokennzeichen verwendet. Wer in China heiraten möchte, orientiert sich dagegen besser an der Neun, die nach „andauernd“ klingt.

Jedem Buchstaben und auch jedem Wort ordneten im Altertum griechische, jüdische, syrische und arabische Gelehrte nach verschiedenen Systemen einen Zahlenwert zu. Darauf gründen mystisch-religiöse Lehren, die Isopsephie etwa bei den Griechen und Gnostikern, die Gematria bei den Rabbinern und Kabbalisten. Die Gleichsetzung von Zahlen und Buchstaben führte zu den merkwürdigsten Methoden der Textauslegung und blickt doch auf eine lange Tradition zurück. Das Grundprinzip besteht darin, den Wert der Buchstaben eines Wortes zu ermitteln und in eine Zahl umzusetzen. Rabbiner verknüpften etwa die hebräischen Worte jajin für „Wein“ (Zahlenwert: „50 + 10 + 10 = 70“) und sod für „Geheimnis“ (Zahlenwert: „4 + 6 + 60 = 70“), weil beide Worte im hebräischen Zahlensystem denselben Wert hatten, und schlossen daraus, dass im Wein die Wahrheit liege. „Nimm zweihundert und eins, und viermal zwanzig und zehn. Setze dann die erste dieser Zahlen ans Ende, und du wirst alsdann wissen, welcher Gott ich bin“, soll ein ägyptischer Gott zu Alexander dem Großen gesagt haben. Dieser decodierte die Zahlenfolge „200, 1, 100, 1, 80, 10, 200“ mit griechischen Buchstaben, und las den Namen „Sarapis“.

Die Babylonier brauchten Zahlen, um ihre Götter hierarchisch zu ordnen. Die Zahl Sechzig stand für Anu, den Gott des Himmels, und war die vollkommenste Zahl nach babylonischem System. Sin, dem Mondgott, war die Dreißig zugewiesen – er beherrschte die dreißig Tage des Monats.

Keine Mühe scheuten Fanatiker, um abstruse Zahlentheorie zu betreiben. 1599 verfasste der katholische Theologe Petrus Bungus ein siebenhundertseitiges Werk, die „Numerorum mysteria“, um zu beweisen, dass der Name „Martin Luther“ den Zahlenwert „666“ habe. Nach Apostel Johannes die Zahl des „apokalyptischen Tieres“, nach Bungus die des „Antichristen“.

Doch die Zahlenspiele nährten nicht nur Verschwörungstheorien, sie verschönten auch die Poesie. Dichter wie Leonidas von Alexandria verfassten mit Zahlenalphabeten literarische Texte. Die Kunstform des Chronogramms findet sich in zahlreichen hebräischen und mohammedanischen Texten. Es ist die Kunst, einen Satz zu bilden, der einen Sinn ergibt und gleichzeitig dem Zahlenwert des Ereignisses entspricht, das verewigt werden soll. Auf einem jüdischen Grabstein bei Toledo steht der Satz „Jahr: Ein Tautropfen auf fünftausend“ für die Zahlenreihe „30, 9, 10, 30, 3, 1“ was einem Wert von 83 entspricht. Der Beerdigte starb also im Jahr 83 respektive – nach dem gregorianischen Kalender – im Zeitraum von 1322 bis 1323 nach Christus.

„Möge der Eingeweihte dem Eingeweihten diesen Text erklären. Möge der Nichteingeweihte ihn nicht erblicken!“ Mit dieser Formel verwiesen diverse Autoren auf chiffrierte Texte, die keineswegs poetischer Natur waren: Die Zahlenkombinationen sollten Uneingeweihte irreführen und zum Beispiel heilige Texte geheim halten. Muslimische Gelehrte wiederum wagten es, anhand von Berechnungen Sieger und Verlierer von Kriegen zu prognostizieren: Mit den Namen der jeweiligen Könige berechneten sie eine Zahl, deren Restsummen sie miteinander verglichen. Sind beide zugleich entweder gerade oder ungerade, „so wird der König, dessen Name die kleinere Restsumme aufweist, siegreich sein. Ist eine der Restsummen eine gerade, wird der König mit der höheren Zahl gewinnen.“ Und wer gewinnt, wenn beide Zahlen gleich und ungerade sind? Dann wird der König siegen, der angegriffen hat. So einfach ist das manchmal.

GINA BUCHER, Jahrgang 1978, sieht – als Synästhetikerin – bei Zahlen Rot. Oder Grün, oder Lila. Kommt eben ganz auf die Zahl an