: Ein Schiff wird kommen
Ein Roman als Vorlage für einen Hollywoodfim (1): Amitav Ghosh erzählt wieder ein großes Epos mit Motiven aus der Geschichte Indiens. Alles geht im „Mohnroten Meer“ – nicht nur die Liebe über alle Kastengrenzen hinweg
VON KATHARINA GRANZIN
Amitav Ghosh ist ein begnadeter Sucher der Trüffel im Bodensatz der Geschichte. Viel ist schon über die Kolonialzeit in Indien geschrieben worden, doch die florierende Opiumindustrie, die die Briten auf indischem Boden betrieben, war bisher noch nicht Hauptgegenstand literarischer Auseinandersetzung – oder jedenfalls nicht Gegenstand eines so umfangreichen Schmökers. Ghoshs neuer Roman, „Das mohnrote Meer“, spielt im Jahr 1838 in Bengalen, kurz vor Ausbruch des ersten Opiumkriegs, mit dem die britische Krone China zur Öffnung seiner Märkte zwang. Das Opium, das die Briten massenhaft nach China einschleusten, um das Land zu schwächen, kam damals aus Indien. In weiten Landstrichen Bengalens wurden die Bauern gezwungen, auf ihren Feldern ausschließlich Mohn anzubauen, um die unersättlichen Nachfrage der europäischen Pharmaproduzenten und anderer Abnehmer nach der Droge aus der roten Blume befriedigen zu können.
In dieser historischen Situation lebt am Ganges die junge Diti. Sie ist Bäuerin, pflanzt Mohn für die Engländer an, hat eine kleine Tochter und einen Mann, der in der Opiumfabrik arbeitet und schon bei der Heirat durch den konstanten Konsum der Droge zu geschwächt ist, um ihr ein Kind zu machen. Deshalb wird die Braut in der Hochzeitsnacht kurzerhand von ihrem Schwager vergewaltigt. Als der Ehemann durch das Opium stirbt, soll Diti nach dem Willen der Verwandten mit ihm verbrannt werden.
Was für ein Thema! Oder auch: Was hätte eine Pearl S. Buck aus dieser Story gemacht! Oder ein Amitav Ghosh, der in Form ist? Der reale Amitav Ghosh aber scheint, irritierenderweise, der Kraft dieses zunächst angelegten Sujets nicht zu trauen und verlässt es nach einer kurzen Exposition schon wieder, um einen anderen Plan zu verfolgen. Er, der im „Glaspalast“ seine Fähigkeit zum breit angelegten Historienepos oder im „Kalkutta-Chromosom“ sein Talent bewiesen hat, eine verschlungene Handlung durch atmosphärisch dichtes Erzählen zu unheimlicher Spannung zu konzentrieren, scheitert hier – woran eigentlich? Möglicherweise an dem Versuch, die epische Struktur seines erfolgreichsten Romans, „Der Glaspalast“, der das Schicksal mehrerer Personen während des Zweiten Weltkriegs in Birma verfolgt, auf einen Stoff zu übertragen, der sich für eine solche Behandlung nicht wirklich eignet.
Dazu bedient sich der studierte Historiker reichlich, um nicht zu sagen überreichlich, aus dem Fundus der Geschichte. Statt einer oder zweier Hauptrollen gibt es, wie im „Glaspalast“, zahlreiche wichtige Nebenrollen, von denen einige mehr Text haben als andere. Das hat den strukturellen Vorteil größerer thematischer Breite, aber den Nachteil, dass die Story an Fokus verliert. Zu den bedeutenderen Nebendarstellern gehören neben der Bäuerin Diti ein amerikanischer Seemann, Zachary Reid mit Namen, der, obwohl Sohn einer freigelassenen schwarzen Sklavin, dank seiner hellen Haut in der Schiffshierarchie schnell aufsteigen kann und sogar Zugang zu den feineren Kreisen der britischen Gesellschaft erhält. Außerdem eine junge Französin, die nach dem Tod ihres Vaters, eines bekannten Botanikers, mittellos und auf das Wohlwollen britischer Gönner angewiesen ist. Und ein indischer Raja, der, von den Engländern um sein Vermögen gebracht, aufgrund übler Intrigen im Gefängnis landet und dort die schlimmsten Demütigungen erfahren muss.
Um diese Personen herum tut sich jeweils ein ganzer sozialer Kosmos auf. Zusammengenommen könnte sich daraus ein breit angelegtes Panorama der damaligen Bevölkerung Bengalens ergeben, doch was entsteht, ist eher ein Mosaik, das sich nicht von selbst zu dem Gesamtbild fügt, das der Romancier beabsichtigt – dazu sind die sozialen Kontexte zu verschieden –, sondern etwas Nachhilfe braucht. Deshalb werden sich alle eingeführten wichtigen Personen am Ende auf der „Ibis“ wiederfinden, einem ehemaligen Sklaven- und nun Handels- und Auswandererschiff, mit dem Zachary Reid nach Bengalen gekommen ist.
Dieses Verkehrsmittel ist so etwas wie ein zusätzlich generierter Erzählfokus, die große inhaltliche Klammer, mit der Ghosh seine Erzählstränge zusammentackert. Warum eigentlich? Im wirklichen Leben wären sich seine Figuren nie begegnet. Bei Ghosh geht alles: Eine Frau aus einer hohen Kaste brennt mit einem Mann aus einer niederen Kaste durch; ein Raja säubert Latrinen und begreift dies als Mittel der Läuterung; ein schwarzer Amerikaner avanciert zum Liebling der britischen Kolonialherren. Und warum sollten all diese Menschen mit ihrem an sich schon sagenhaften Schicksal nicht gemeinsam auf einem Schiff nach Mauritius fahren?
Ja, natürlich ist das Schiff ein Symbol der Freiheit. Ghosh wollte Menschen zeigen, die der Willkür der kolonialen Herrscher nicht hilflos ausgeliefert sind, und Charaktere entwickeln, die so stark sind, dass sie ihrem Elend aus eigener Kraft entkommen. Doch wird diese Absicht konterkariert, wenn man als zuverlässigen Rettungsplan wiederholt auf das Deus-ex-Machina-Prinzip zurückgreift. Da wird die eine im allerletzten Moment vom Scheiterhaufen, der andere in letzter Sekunde vor dem sicheren Ertrinken gerettet, und als finale Rettungsinstanz gibt es ja dann noch die „Ibis“. Was bei diesem Verfahren am Ende herauskommt, ist allerdings weniger ein Roman als ein historisch inspiriertes Märchen. Auch das Schablonenhafte vieler Personen trägt zu diesem Eindruck bei, und die bemühte Komik mancher Dialoge überschreitet mitunter die Grenze zum Peinlichen.
Ein Humorist ist Ghosh jedenfalls nicht. Dass er sich dennoch wiederholt um humoreske Einlagen bemüht, wirkt fast irgendwie verdächtig. Ja, könnte man sich diesen Schmöker nicht eigentlich gut als Hollywoodfilm vorstellen, mit seiner ausgewogenen dramaturgischen Mischung aus Liebe, Gewalt, Fluchtszenen, hier und da ein paar lustigen Dialogen und einem zuverlässigen Happy End? Ein Drehbuchautor hätte damit schon mal eine prima Vorlage. Ob das der Plan war? Wenn ja, dann ist er jedenfalls aufgegangen.
Amitav Ghosh: „Das mohnrote Meer“. Aus dem Englischen von Barbara Heller und Rudolf Hermstein. Karl Blessing Verlag, München 2008, 620 Seiten, 21,95 Euro