Im Rausch der Masse

Zu Ehren der Gründung Nordkoreas vor sechzig Jahren lässt Kim Jong Il die Menschen in der Arirang-Schau nach seinem Gusto tanzen

AUS PEKING JUTTA LIETSCH

Vor sechzig Jahren rief der „Große Führer“ Kim Il Sung die Demokratische Volksrepublik Korea aus und besiegelte damit die Teilung der koreanischen Halbinsel. Im Leben der Koreaner sind sechzigste Geburtstage traditionell sehr wichtig.

Kein Wunder also, dass der Sohn des Staatsgründers, der „Liebe Führer“ Kim Jong Il, besonders beeindruckende Zeremonien zum Jahrestag am 9. September geplant hat. Seit dem 4. August zeigen bis zu hunderttausend Darsteller im 1.-Mai-Stadion von Pjöngjang ihre Kunst in der neuesten Version der abendlichen Massengymnastikvorstellung, nach einem alten koreanischen Volkslied „Arirang“ benannt.

Damit nicht genug: Unter dem Titel „Es gedeihe das Vaterland“ sollen nachmittags 50.000 Darsteller in einer leicht abgespeckten, zweiten Gymnastikschau auftreten. Reisebüros locken mit „präzisen Massenchoreografien“, die von der revolutionären Vergangenheit und vom „großartigen Entwicklungsstand der Gegenwart“ erzählen.

Kein anderes Land kann Menschenmassen so akkurat in Szene setzen wie Nordkorea. Das bestätigte kürzlich Chinas berühmter Filmregisseur Zhang Yimou, der die Eröffnungs- und Abschlussfeiern der Olympischen Spiele in Peking inszenierte: „Diese Art der Uniformität bringt Schönheit hervor … Die Darsteller folgen den Anweisungen, und sie können es wie Computer.“

Jede Individualität, jede Unebenheit und jede Abweichung soll verschwinden. Dafür trainieren die Teilnehmer über Jahre hinweg. Im Sommer 2002 ließen Kim und seine Generäle das Spektakel in Konkurrenz zur Fußballweltmeisterschaft in Südkorea und Japan organisieren – und wunderten sich, warum trotzdem kaum Gäste aus dem Ausland zur Schau nach Nordkorea kamen.

Seither sollen die Arirang-Künstler schon fast zweihundertmal vorgeturnt haben. Das Leben tausender Kinder, Soldaten und Künstler ist auf die Vorstellung ausgerichtet. Im Film „State of Mind“ begleitet der britische Dokumentarfilmer Daniel Gordon zwei Schülerinnen bei ihren Vorbereitungen und gibt Einblick in den Arirang-Alltag. Als „Rausch“ beschreibt eine andere frühere Teilnehmerin, die auf der Tribüne Farbtafeln umschlug, den Moment perfekter Harmonie, wenn alle in einem großen Ganzen verschwinden.

Kim Jong Il, der sich gern als größter Regisseur Nordkoreas feiern lässt, verfasste selbst Traktate über den politischen und psychologischen Nutzen der Massengymnastik. Seine zynischen Absichten liest man dabei höchstens zwischen den Zeilen: Eine Bevölkerung, die ständig für die nächste große Zeremonie trainiert, ist zu erschöpft, um sich gegen das Regime zu wehren.

Trotz Arirang gewann Nordkoreas Team bei den Olympischen Spielen in China nur eine einzige Medaille im Turnen – beim Pferdsprung der Frauen. Die nordkoreanischen Medien, derzeit begeistert von den Vorbereitungen zum sechzigsten Jahrestag, meldeten nur kurz die Erfolge in Peking. Arirang ist wichtiger als Olympia.