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Archiv-Artikel

„Das Versprechen war nicht mehr haltbar“

Dass mittlerweile politisch korrekt von Sinti und Roma gesprochen wird, schützt sie nicht vor Stereotypen. Der Germanist Hans Richard Brittnacher forscht am Hamburger Institut für Sozialforschung zur medialen Inszenierung des Zigeuners. Ein Interview

taz: Muss man sich in Zeiten, in denen alle Welt politisch korrekt von Sinti und Roma spricht, noch Gedanken über Stereotypen in ihrer Darstellung machen?

Hans Richard Brittnacher: Absolut. Der Sprachgebrauch Sinti und Roma zeigt einen Hang zur sprachlichen Entsorgung, der das Problem aber nicht aus der Welt schafft. Wenn in Filmen der Begriff Zigeuner sorgfältig vermieden wird, aber die Roma gleichzeitig in langen Röcken und mit blitzenden Zähnen gezeigt werden, ist das bloß sprachliche Kosmetik.

Wo finden Sie diese Stereotypen?

Ich habe einige tausend Bücher und Filmer ausgewertet und stieß immer wieder auf das Phänomen, dass Zigeuner vorkommen – Zigeuner in Anführungszeichen, weil es um das literarische oder filmische Artefakt geht, nicht um die Realität eines Rom oder einer Sintezza – aber sie stehen am Rande. Die Bücher und Filme reproduzieren also ein Verfahren unserer Alltagswahrnehmung.

Zu Zeiten der Romantik gab es doch Erzählungen, in denen Zigeuner die zentralen Figuren waren.

Man spricht abschätzig von der so genannten Zigeunerromantik: Das sind vor allem Texte von Clemens Brentano und Achim von Arnim. Die haben tatsächlich eine Verklärung des Zigeunerlebens betrieben – unter strikter Missachtung der realen Verhältnisse. Typisch ist ein Brief von Brentano, in dem er schreibt, dass er es leid sei, in seinen Texten das hoch poetische, freie Leben der Zigeuner zu besingen und hinter seinem Rücken knüpfe man sie auf. Zigeuner waren damals vogelfrei, man konnte sie totschlagen, wann immer man sie traf.

Warum gibt es keinen Raum zwischen romantischer Verklärung und völliger Diskreditierung?

Das hat damit zu tun, dass auf die Zigeuner die Phantasien von Freiheit und ungezügeltem Leben projiziert werden – und zugleich die Drohung, was uns passiert, wenn wir ihnen nachgeben. Deutlich wird das am Bild der jungen, schönen Zigeunerin, die immer in Begleitung einer armen Alten auftritt. An der alten Zigeunerin sehen wir den Preis, den man entrichten muss, wenn man sinnlich und unsittlich gelebt hat.

Warum hat sich die Person des Zigeuners literarisch zur bloßen Nebenrolle reduziert?

Das Versprechen, das damit verknüpft wurde, war nicht mehr haltbar. Es hat sich ja auch in unserer Wahrnehmung von Fremden seit dem Zeitalter der Romantik viel getan. Unter anderem ist der biologische Rassismus dazugekommen und der Mord an einer halben Million Roma und Sinti unter den Nationalsozialisten.

Was haben neuere Filme wie die von Emir Kusturica, der die Kultur von Sinti und Roma feiert, bewirkt?

Das ist in gewisser Weise ein Bemühen, zu den alten Stereotypen zurückzukehren. Kusturica sagt: Wir müssen die alten Vorurteile nicht widerlegen, sondern zugestehen. Und sehen, dass das einen höheren ästhetischen Wert hat. Er hat eine eigenartige Theorie, wonach die Körpertemperatur von Sinti und Roma höher ist, was dazu führt, dass sie gewissermaßen schneller leben. Wobei dieser Film sehr bewegend ist, besoffen von seinen eigenen Bildern – aber das ändert nichts daran, dass Philoziganismus nur eine Version des Antiziganismus ist.

Wie sieht das in den Filmen von Sinti und Roma aus?

Nehmen Sie einen Regisseur wie Toni Gatliff, der in seinem Film „Gadjo Dilo“ solche Stereotypen durchaus reproduziert. Die Tatsache, dass man selbst Angehöriger einer Minderheit ist, immunisiert ja nicht dagegen, dass man solche Fremdzuweisungen übernimmt.

Nehmen Sie auch Widerstand dagegen wahr?

Segensreiche Wirkung haben die verschiedenen Bürgerrechtsbewegungen: Es gibt den Dachverband der Sinti und Roma in Heidelberg, die Sinti-Allianz in Köln, die mittlerweile mit großer Aufmerksamkeit die Berichterstattung verfolgen.

INTERVIEW: FRIEDERIKE GRÄFF

Am 15.9. um 20 Uhr spricht Hans Richard Brittnacher im Hamburger Institut für Sozialforschung über: „Leben auf der Grenze. Zur medialen Inszenierung des Zigeuners“

Fotohinweis:HANS RICHARD BRITTNACHER, 56, ist Professor für neuere deutsche Literatur an der FU Berlin. Derzeit forscht er als Gast am Hamburger Institut für Sozialforschung zur Imago des Zigeuners in der Literatur und den Künsten