: Ella Apmann und das Raumschiff
aus Berlin KIRSTEN KÜPPERS
„Garfield Haus“ steht mit schwarzen Klebebuchstaben an der Wand. Nach Comic und Witzen und weichem Fell klingt das. Nach Freizeit und Zuhause. Und das ist es ja, was der Mensch braucht, wenn er in einem Tierheim das Katzenhaus betritt. Ein Name wie „Garfield Haus“ ist ein freundlicher Trost, in den sich der Besucher erst einmal retten kann. Die Vorstellung, dass alles gar nicht so schlimm ist hier. Wo man sich doch zuerst ein bisschen verloren vorkam.
Denn anfangs, da liegt es nur in der Landschaft, das neue Berliner Tierheim. Wie ein Raumschiff. Flach und weit, aus grauem Beton. Außen ein lang gestreckter Fremdkörper, im Innern bestehend aus glatten Mauerfluchten, gläsernen Wänden, einem künstlichen See, aus kreisrunden Öffnungen und harten geometrischen Achsen.
Irgendwo in der spanischen Sierra oder in der kalifornischen Wüste, da, wo Experimente moderner Architektur für gewöhnlich zu finden sind, wäre man über so ein visionäres Ding ja vielleicht nicht einmal überrascht. Aber hier, mitten in einem struppigen Feld, in Falkenberg am östlichen Stadtrand von Berlin, zwischen Plattenbauten, Dorfstraße und Kleingartensiedlung, da erschrickt der Besucher doch etwas. Staunt selbst ein Jahr nach der Fertigstellung noch, dass so was hier steht. Wundert sich, dass dieses futuristische Areal tatsächlich ein Heim für herrenlose Pudel, Perserkatzen und Meerschweinchen sein soll.
Das neue Berliner Tierheim ist das modernste und größte Tierheim der Welt. Rund 36,3 Millionen Euro hat der Bau des Architekten Dietrich Bangert den Berliner Tierschutzverein gekostet, keine Mark kam vom Staat. Dafür gibt es hier jetzt alles: Häuser, Galerien und Pavillons für 1.200 Tiere, Büros aus Glas für die Mitarbeiter, Schiebetüren und eine Fußbodenheizung im Katzenhaus, eine Lautsprecheranlage im Hundetrakt, elektrothermische Sensoren zum Öffnen und Schließen der Fenster, einen Vortragssaal, wo US-amerikanische Tierpsychologinnen Referate halten, einen Shuttle-Service mit Elektroautos zur nächsten Bushaltestelle. Die Zukunft will hier gar nicht mehr aufhören. Gegen wirklich jede vermeintliche Häkeldeckchen-Gemütlichkeit seiner Geldgeber hat sich der Architekt mit einer weiteren Apparatur aus Technik und Fortschritt gewappnet, hat der traurigen Realität eines Tierheims kühle Oberflächen entgegengesetzt. Und selbst jetzt, wo der Betrieb schon seit einem Jahr läuft, nutzen sich diese hübschen Kontraste nicht ab: Zwischen all dem kalten Beton und Stahl sehen ganz normale Besucher in ganz normalen Jacken, ganz normale Angestellte in grünen Hosen und Pullovern und ganz normale Tiere mit Fell hier immer noch aus wie Aussätzige in einer fremden Galaxie.
Eines dieser Wesen ist Ella Apmann, die Katzenpflegerin. Mit einem metallenen Wägelchen zuckelt die 46-Jährige morgens um neun durch einen lichtdurchfluteten gläsernen Gang, zieht Deckel von Aludöschen, leert den Inhalt in bunte Plastikschälchen, schiebt jeder Katze ihr Futter in die Box. Ella Apmann ist seit 24 Jahren Tierpflegerin. Inzwischen trägt sie die Haare blondiert und am Ohr einen kleinen golden Bären, den ihr Sohn ihr geschenkt hat. Sie kommt aus einer Welt, in der Tierheime noch mehrstöckige Gebäude mit langen dunklen Fluren waren und keine hellen Raumschiffe; wo es enge Zwinger gab statt großer Glaskästen, vor denen der Mensch nun steht wie vor einem Aquarium und das Tier nicht einmal riecht. „Eine Umstellung war es schon“, sagt Ella Apmann. „Allmählich hab ich mich aber dran gewöhnt.“ Sie erklärt, dass die Hunde und Katzen jetzt viel mehr Platz haben im neuen Tierheim, dass sie durch Klappen ins Freie können, wann immer sie wollen, dass der Architekt die Katzenboxen leicht erhöht gebaut hat, so dass der Besucher über den Größenunterschied hinweg den Katzen fast Auge in Auge gegenüberstehen kann, dass jede Katze an der linken Halsseite einen elektronischen Chip eingesetzt bekommen hat – zur Identifikation.
Ella Apmann steht vor ihrem Wägelchen und drückt mit einer Gabel das Futter klein, die Tiere nennt sie „Stupsi“ oder „Mäusilein“, von den Lieblingskatzen macht sie Fotos, die sie an einer Pinnwand am Ende des Ganges aufhängt. Sie weiß, dass all der saubere Beton, das Glas und alles Neue im Grunde nichts ändert. Weil ja die Geschichten dahinter die gleichen bleiben, hundertfache Variationen der verhängnisvollen Beziehung zwischen Mensch und Tier.
Ella Apmanns Kopf ist voll von diesen Schicksalsromanen. Von vielen geschundenen Tierseelen kann sie erzählen, von „Scheidungskatzen“, von heulenden alten Männern, die ihren Wellensittich nicht ins Pflegeheim mitnehmen dürfen, von Menschen, die 79 Katzen in einer Einzimmerwohnung halten, von abgeschobenen Schlangen und Löwen, von gequälten Hunden und wie es war, als das Berliner Tierheim noch nicht das modernste der Welt, sondern das älteste Deutschlands gewesen ist. Sie kann von einem Vegetarierhund erzählen, der da im Vogelhaus gewohnt und nur Salat gefressen hat. Sie hat erlebt, dass ein Betrunkener mit einer Schreckschusspistole herumgeballert hat, weil er sich im Suff in eine Katze verliebt hatte. Oder dass ihre Kniescheibe auf dem Eis kaputtging, als sie einen eingefrorenen Schwan gerettet hat.
Ella Apmann sagt, dass 79 Tiere in der vergangenen Woche an neue Besitzer vermittelt werden konnten, 86 herrenlose Katzen sind dafür neu hinzugekommen. Und darin steckt das tragische Moment ihres Berufs, dieses Verrückte, das sie bis nach Hause ins Wohnzimmer verfolgt und nachts ins Bett: dass sie immer gegen diese Differenz anrennen muss. Gegen eine Zahl, die aus unerklärlichen Gründen höher und höher wird mit jeder Woche, jedem Monat. „Regelrecht seelisch kaputtgehen“ könnte man daran, findet Ella Apmann. Dass man alles tut, am Wochenende noch und an allen Feiertagen auch, dass man neuerdings sogar ein Handy bei sich trägt für dringende Kundenanfragen, dass einem das Ganze manchmal wie ein Durchlauferhitzer vorkommt, und dass am Ende trotzdem immer ein wachsender Rest an Geschichten bleibt. Ella Apmann guckt auf ihre Pinnwand. Sie sieht in Katzenaugen, die rot sind vom Blitzlicht des Fotoapparats, guckt auf dieses kleine selbst gebastelte Museum, weil man sich daran besser aufrichten kann als an einer nackten Betonwand. Ella Apmann pustet sich die Haare aus dem Gesicht.
Natürlich kann sie sich nicht aufhalten mit all dem Leid. Ein Tierheim ist ein Spiegel gesellschaftlicher Moden und Krisen. Wenn den Menschen das Geld ausgeht, schaffen sie als Erstes ihre Tiere ab. „Und wenn die Politiker morgens eine Kampfhund-Verordnung beschließen, werfen die Leute nachts ihre Staffordshire-Terrier bei uns übern Zaun“, erklärt Ella Apmann. Im Januar kommen die ersten Weihnachtsgeschenke zurück, mal sind es Dalmatinerhunde, mal Chinchillahasen. Es hört nicht auf. Die Kollegen erzählen sich die Geschichten in der Mittagspause, abends möchte jeder von ihnen schon wieder ein Tier mit nach Hause nehmen, ein ständiger Gefühlsüberschwang, der da herrscht. „Das überschreitet einfach die Ausmaße“, sagt Ella Apmann. Zwei Katzen hat sie trotzdem schon geholt. Denn „ein richtiges Daheim ist das hier ja nicht“. Ella Apmann starrt wieder auf den Beton.
Und dennoch gibt es auch Gutes zu vermelden. Ein Fotograf von der Boulevardpresse hat heute den dünnen, blinden Pudel fotografiert. Die Chancen des Hundes, hier wegzukommen, steigen damit dramatisch. Und tatsächlich erhöhen sich die Vermittlungszahlen ja ständig. Denn selbst wenn die meisten Besucher den Kopf schütteln, wenn sie sich über das moderne Gelände schieben, selbst wenn sie sagen „ganz schön kahl“ oder „ziemlich gewöhnungsbedürftig“, ist die Architektur immerhin mit daran Schuld, dass sie überhaupt den weiten Weg hierher gefunden haben.
Weil es in der Umgebung sonst nicht viel gibt, ist das neue Tierheim sogar zu einem Treffpunkt für die örtliche Jugend geworden. Die zwölfjährige Sandra und ihre Freundinnen finden: „Es sollte hier mehr aussehen wie ein Wohnhaus.“ Aber wenigstens sind sie überhaupt gekommen. Und das Efeu am Beton wird schon noch wachsen.
Darauf warten alle. Eva Apmann sagt das. Die Hasenpflegerin in der grünen Latzhose sagt das. Und die alte Dame, die mit ihrem Enkel vor den Hundepavillons steht. Sie alle haben die Hoffnung, dass sich an den funktionalen Baustoffen etwas Schönes hochrankt. Ein Ort der Wärme soll hier entstehen. So wollen es die Mitarbeiter. Ein Jahr sind sie schon in diesem Raumschiff hier draußen. Es ist an der Zeit.