: Streiken, bis es quietscht
Heute schaut jeder auf Potsdam. Kann der Streik im öffentlichen Dienst noch verhindert werden? Doch wer schaut auf Berlin? Zehn Gründe, warum ein Ausstand gut für die Hauptstadt wäre
von UWE RADA
Heute Abend kommen in Potsdam noch einmal die Vertreter von öffentlichen Arbeitgebern und Gewerkschaften zusammen, um in letzter Minute einen Streik im öffentlichen Dienst abzuwenden. Was für den Bund (und die rot-grüne Koalition) gut wäre, muss für die Hauptstadt allerdings nicht gelten. Es gibt sogar gute Gründe für einen Streik. Ähnlich gute wie für das Sparen, von dem der Regierende Bürgermeister einmal gesagt hat, dass es quietschen müsse. Hier sind sie:
1. Der Einzelhandel
Dem Einzelhandel steckt das Weihnachtsdebakel noch in den Knochen. So schlimm stand es noch nie um die Kauflust der Berliner. Gründe dafür gibt es viele. Während der Durchschnittsberliner entweder arbeitslos oder von Arbeitslosigkeit bedroht ist, hatten die Beschäftigten des öffentlichen Diensts, zumal die viel beschäftigten und gut dotierten, einfach keine Zeit. Das wird sich mit einem Streik ändern. Statt Bummelstreik heißt es dann ordentlich streiken und bummeln gehen. Schließlich soll es nicht nur den Staatsdienern besser gehen, sondern auch Tante Emma. Das nötige Geld für das Konjunkturprogramm für den Berliner Einzelhandel kommt aus den Streikkassen, und die sind laut Ver.di prall gefüllt.
2. Die Bildung
Pisa hat es gezeigt: Die Berliner haben viel Schnauze, aber wenig Verstand. Letzteren würde man gerne kaufen an der Spree, doch das wäre viel zu teuer. Also hat der Berliner Senat beschlossen, dass die Lehrer nachsitzen, das heißt mehr arbeiten müssen. So weit die Vorgeschichte. Nun ist es aber so, dass die Berliner Lehrer die Berliner Schüler gar nicht klüger machen, sondern im Gegenteil streiken wollen. Wird Pisa nächstes Jahr also noch schlimmer, werden sogar die Lehrer bald zu Analphabeten werden? Keine Panik, das Gegenteil ist der Fall. Ein Lehrerstreik ist so ziemlich das Beste, was Berlin passieren kann. Oder gilt etwa nicht: Non scolae, sed vitae discimus. Eben: Praxis- und lebensorientierter könnte ein Lehrerstreik nicht sein, schließlich lernt man nicht alle Tage, was die Lehrerwelt im Innersten zusammenhält. Wenn sich die Schüler die Lektion für später merken, werden sie es weit bringen, und sei es nur in der GEW.
3. Die Initiative
Angenommen, alle Räder stehen still, weil es Ver.di einfach will. Angenommen also, Schnee und Müll bleiben liegen und die BVG stellt ihren Betrieb ein. Was soll daran schlimm sein in Zeiten der Ich-AG? Wer hindert die Bestreikten daran, sich Rikschataxis zu kaufen und ein florierendes Unternehmen aufzuziehen? Je länger der Streik dauert, desto mehr private Initiative würde die Wirtschaft der Stadt beleben. Überall schössen Klein- und Kleinstunternehmer aus dem Boden. Der arbeitslose Bauarbeiter bediente mit seinem VW-Bus die Linie 100, und der geschasste IT-Programmierer programmiert den Fahrplan für Sammeltaxen. Das ist nicht nur neuer Unternehmergeist, sondern auch nachhaltig. Wer sagt denn, dass der Kunde nach Streikende noch mit der BVG fahren will, wenn die Sammeltaxen billiger sind? Die türkischen Berliner kennen sie zur Genüge aus ihrer Heimat, sie lieben ihren Dolmuș.
4. Solidarität
Gewerkschaften sind solidarisch, das versteht sich von selbst. Am solidarischsten ist die Gewerkschaft Ver.di. Die ist sogar so solidarisch, dass sie die Berliner für die Einkommenserhöhungen ihrer Mitarbeiter zur Kasse bitten will. Doch das Ende der Solidarität ist noch lange nicht erreicht. Wenn der Streik nur lang genug dauert, bekommt Ver.di einen solchen Zulauf, dass das Wort Mitgliederschwund getrost aus dem Sprachgebrauch gestrichen werden darf. Vielleicht kommt es ja sogar zur Vollbeschäftigung. Die tritt ein, wenn alle 3,5 Millionen Berliner Mitglied bei Ver.di werden und damit den moralischen Anspruch erwerben, im öffentlichen Dienst eingestellt zu werden. Dann ist die Stadt zwar pleite, aber das ist ja egal, weil es dann keine Stadt mehr gäbe, sondern nur noch Ver.di.
5. Familie
In jüngster Zeit vermehrten sich die Meldungen über ein erhöhtes Geburtenaufkommen in den Szenevierteln Mitte oder Prenzlauer Berg. Bevölkerungswissenschaftler erklären sich dieses Phänomen mit der Pleite in der New Economy und einem radikal veränderten Zeitbudget der neuen Mitte. Was ist aber mit der alten Mitte? Aus den Wohnvierteln des öffentlichen Diensts ist bislang von höherer Zeugungsbereitschaft nichts zu hören. Liegt das daran, dass der Antrag auf Erteilung eines Antragsformulars erotischer scheint als das wahre Liebesleben? Auch da gibt es offenbar Nachholbedarf. Schluss mit dem Gebärstreik, raus aus dem Büro und rein in die Betten!
6. Deregulierung
Überregulierung, dieses Wort darf man hierzulande nicht in den Mund nehmen. Was aber, wenn keiner mehr über den Wortschatz wacht? Weder die Gewerkschafter, weil sie ja ganz unbürokratisch den Streik vorbereiten müssen, noch die Sachbearbeiter in den Bezirksämtern, die nun nicht mehr Genehmigungen erteilen, sondern Streikposten einteilen müssen? Ganz einfach: Alles wird einfacher. Die Kneipen stellen alle Tische auf die Straße und die Neuköllner bauen sich am Landwehrkanal lauter Wellblechsiedlungen und schaffen damit Nachfrage auf dem Baustoffsektor. Zu guter Letzt kommt der Barbier von Kreuzberg auch noch zu seinem Recht, weil er mitten in der Streikzeit ein Frisörgeschäft ohne den erforderlichen Nachweis eines Meisterbriefs eröffnet. So kommt Berlin auch ohne Änderung des Ladenschlussgesetzes zur langen Nacht der Marktwirtschaft.
7. Landeshaushalt
Je länger der Streik dauert, desto nützlicher ist er für Berlin, die Berliner und die Berliner Wirtschaft. Und auch für Finanzsenator Thilo Sarrazin. Jeder Pausierende der 150.000 Beschäftigten im öffentlichen Dienst muss im Falle des Streiks nicht mehr aus der Landeskasse, sondern von Ver.di bezahlt werden. Und wenn die Stadt trotzdem brummt, fragt sich natürlich jeder, ob es da nicht noch mehr quietschen kann beim Personaletat. Mehr Leistung für weniger Dienst, das wäre doch die richtige Dienstleistungsgesellschaft. Ob nun öffentlich oder privat.
8. Bankenskandal
Nützlich ist ein Streik auch für die Herren Landowsky, Rupf und Co. Lange Zeit als Berliner Paten im Mittelpunkt, können sie nun darauf hoffen, wieder ein ruhigeres Dasein zu fristen. Wenn der Berliner Landeshaushalt mit Hilfe des Ver.di-Streiks hält, halten auch die Landesbürgschaften, und die Bankgesellschaft Berlin muss nicht notgeschlachtet werden. Das wiederum bedeutet, dass die bankeninterne Revision weitermachen und alle Verantwortungen von Landowsky vertuschen darf. So sehen Win-Win-Situationen aus.
9. Transrapid
Über 200 Millionen Euro hat die öffentliche Hand für den Airport-Ausbau in die Schönefelder Äcker gesetzt. Es fehlt also hinten und vorne beim geplanten Großflughafen Berlin-Brandenburg International, und ein Streik im öffentlichen Dienst könnte ihm den Todesstoß versetzen. Man stelle sich nur vor: In Tegel fliegt nichts mehr, in Szczecin-Goleniów dagegen umso mehr. Wenn das die Chinesen sehen, kriegen die so viel Mitleid, dass sie uns einen schicken Transrapid spendieren. Von Szczecin in zwölf Minuten zum Lehrter Bahnhof. Von wegen, Ver.di lege Berlin lahm, Ver.di ist ein Hauptstadtbeschleuniger! Und mit Stettin-Anschluss wäre Berlin auch endlich fit für die Osterweiterung der Europäischen Union.
10. Regierungswechsel
Den größten Effekt für die Hauptstadt wird aber weder ein Mehr an Solidarität, Geburtenrate oder Kaufrausch haben, sondern ein Regierungswechsel. Haben die Genossen Bsirske und Stumpenhusen erst einmal den Innenminister am Boden, wird der Bundeskanzler alsbald folgen. Und auf Gerhard Schröder sein Rivale aus dem schönen München. Man stelle sich das nur vor. Da landet Edmund Stoiber pünktlich zum Regierungsantritt in Szczecin-Goleniów, fährt mit dem Transrapid in Richtung Reichstag, vorbei an schwarz errichteten Wellblechhütten und ungelehrten Mülleimern und hat es vor sich, das ganze Elend. Und weil der neue Kanzler im Gegensatz zum alten kein vaterlandsloser Geselle ist, sondern ein Patriot, wird er sein Münchner Staatssäckel gleich mitbringen. Streik sei Dank, dann sind wir wieder wer.