: Das Projekt Neues Brasilien
aus Porto Alegre GERHARD DILGER
1997 entwarf der Münchner Soziologe Ulrich Beck die Schreckensvision einer drohenden „Brasilianisierung Europas“. Seine schillernde Chiffre wollte er für immer unsicherer werdende Arbeitsverhältnisse und letztlich den totalen Sieg des Neoliberalismus verstanden wissen: „Der Nationalstaat ist abgeräumt worden. Der Sozialstaat ist eine Trümmerstätte.“
Sechs Jahre später beginnt sich gerade in Brasilien das Blatt zu wenden. Während das benachbarte Argentinien, wo innerhalb weniger Jahre die Hälfte der Bevölkerung unter die Armutsgrenze gesackt ist, in der Tat als Scherbenhaufen neoliberaler Politik gelten kann, richten sich auf Brasiliens neue Regierung die Hoffnungen nicht nur der eigenen Bevölkerung. Und im Lande selbst ist die Aufbruchsstimmung, die der Wahlsieg von Luiz Inácio Lula da Silva im Oktober ausgelöst hatte, ungebrochen: 76 Prozent der BrasilianerInnen sind zuversichtlich, dass Lula ein erfolgreicher Staatschef wird.
„Weg des Dialogs“
Sein Amtsantritts am Neujahrstag glich einem Volksfest: 200.000 begeisterte AnhängerInnen feierten den Präsidenten, als er im offenen Rolls-Royce durch die weitläufigen Straßen Brasílias fuhr. Ein Fan warf sich Lula auf dem Weg zur Vereidigung um den Hals. Gut gelaunt bildeten die Stargäste Fidel Castro und Hugo Chávez mit Daumen und Zeigefinger das Lula-L.
„Wandel“ war das erste Wort und zugleich das Motto von Lulas Antrittsrede. Wenn zum Ende seiner Amtszeit alle Brasilianer die Möglichkeit hätten, täglich dreimal zu essen, habe er die Mission seines Lebens erfüllt, sagte Lula – und schob einige Tage später eine symbolträchtige Ankündigung hinterher: Entgegen bisherigen Planungen werden zwölf Kampfjets vorerst nicht gekauft. Die dafür mindestens erforderlichen 760 Millionen Dollar seien im Kampf gegen den Hunger besser angelegt.
Die BrasilianerInnen nehmen ihm die Ankündigung ab, er werde den Wandel „mutig und behutsam, bescheiden und wagemutig“ angehen. Damit das Ergebnis dieses „allmählichen Prozesses“ dauerhaft sei, so Lula, müsse der „Weg des Dialogs und der Verhandlung“ beschritten werden.
Der Staatschef hat längst bewiesen, dass er ein erfahrener Teamarbeiter ist. Seit 1990 hat Lulas Think-Tank, das Institut für Bürgerrechte in São Paulo, in einem breiten Diskussionsprozess Politikkonzepte erarbeitet, die letztes Jahr in das Wahlprogramm eingeflossen sind. Aus der Erkenntnis heraus, dass sein Projekt nur durch ein Bündnis mit progressiven Teilen der Bürgertums mehrheitsfähig werden konnte, setzte er im Gegensatz zu seinen früheren Anläufen aufs Amt des Präsidenten auf die Öffnung zur Mitte.
Sein Kabinett ist ein weiterer Ausdruck dieser Strategie: Zwar gehört mehr als die Hälfte der MinisterInnen der Arbeiterpartei PT an, doch einige Schlüsselposten im wirtschaftlichen Bereich gingen an parteilose Vertreter aus der Unternehmerschaft. Besonders die Nominierung des Exbankers Henrique Mireilles als Zentralbankchef löste bei der Parteilinken großes Unbehagen aus. Der Linke Miguel Rossetto ist jetzt für die Agrarreform zuständig.
Die PT hatte José Dirceu, ein alter Weggefährte Lulas, über lange Jahre auf die neue Linie gebracht. Der frühere Studentenführer war während der Hochzeit der Militärdiktatur 1969 durch die Entführung des US-Botschafters freigepresst worden und ins Exil nach Kuba gegangen. Als Minister im Präsidentschaftsamt soll der „charmante Rasputin“, wie ihn einmal ein Kontrahent charakterisierte, nun die erforderlichen Mehrheiten im Kongress organisieren. Die PT stellt nur ein Fünftel der Abgeordneten. Selbst mit ihren Koalitionspartnern erreicht sie noch lange nicht die absolute Mehrheit.
Bei seiner Amtseinführung forderte Dirceu eine „soziale Revolution“ ein. Brasilien müsse „seinen Platz in der Welt einnehmen“, aber Voraussetzung dafür sei, dass „unser Volk seinen Platz in Brasilien bekommt“. Die Gegenleistung für die „ausgestreckte Hand der Regierung an die Unternehmer“ seien Einkommensverteilung und die Abschaffung des Hungers. Damit knüpfte er an das Leitmotiv von Lulas Reden seit dem Wahlsieg an, mit dem der Präsident bisher bei Weltbank, Internationalem Währungsfonds (IWF) und selbst im Weißen Haus nur Zustimmung geerntet hat.
Von seinem Vorgänger Fernando Henrique Cardoso übernimmt Lula ein schweres Erbe: Über 50 von 175 Millionen BrasilianerInnen leben noch immer in Armut. Die Realeinkommen sinken seit 1996, die Arbeitslosigkeit steigt. Zwar bekam Cardoso die Hyperinflation in den Griff, doch zuletzt kletterte die Teuerungsrate wieder in den zweistelligen Bereich. Die Kosten für Grundnahrungsmittel stiegen 2002 um 23 Prozent.
Der Anteil der Staatsverschuldung am Bruttoinlandsprodukt hat sich in den letzten acht Jahren auf rund 60 Prozent verdoppelt. Das Land ist abhängiger denn je von den Finanzspritzen des IWF: Als Gegenleistung zu den 30 Milliarden Dollar, die der IWF im vergangenen August zusagte, muss Brasilien einen Haushaltsüberschuss von 3,75 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaften. Mit den 15 Milliarden Dollar, die 2003 auf diese Weise zusammenkommen sollen, werden fällige Zinsen und Tilgungsraten der Auslandsschulden beglichen.
Sparen ist also angesagt – jedes Ministerium muss bis Ende Januar Streichungsvorschläge für 10 Prozent seines bisherigen Etats vorlegen. Sinkende Staatsausgaben sind die Voraussetzung dafür, dass die Zentralbank den Leitzins spürbar senken kann, um die stagnierende Produktion wieder anzukurbeln.
„Schule der Menschheit“
Die „vielleicht schlechteste Einkommensverteilung der Welt“, ein „sozialer Skandal“, sei für die immer brutaleren Erscheinungsformen der Kriminalität in den Städten verantwortlich, sagte Lulas neuer Kulturminister Gilberto Gil in seiner fast barock anmutenden Antrittsrede. Die Kulturpolitik dürfe „nicht den Winden, Geschmäckern und Launen des Gottes ‚Markt‘ übergeben werden, denn dort herrscht das Gesetz des Stärkeren“ – dieser Seitenhieb galt seinem Vorgänger, der den Großteil seiner Kulturförderung über Steuererleichterungen für Unternehmen finanziert hatte. „Was ich unter Kultur verstehe“, so der Popmusiker aus Bahia, „geht über den beschränkten Bereich akademischer Konzepte oder die Riten und Liturgie einer angeblichen Künstler- und Intellektuellenschicht hinaus.“
In einem Interview mit der Zeitschrift CartaCapital begründete der Grüne Gil, warum sich gerade aus dem lateinamerikanischen Land mit kontinentalen Dimensionen ein Gegenentwurf zum „erschöpften US-amerikanischen Zivilisationsmodell“ mit seinem „Primat der Produktivität, der technisch-wissenschaftlichen und militärischen Kraft“ entwickeln könnte. Anders als in den USA sei in Brasilien aus dem Erbe der europäischen, arabischen und asiatischen Einwanderer, der Nachkommen der afrikanischen Sklaven und der indigenen Urbevölkerung ein „mestizisches, transkulturelles“ Volk entstanden. Diese ethnische Vermischung mit ihren „Widersprüchen und Konflikten“ sei nicht zu idealisieren, aber eine Charakterisierung Brasiliens als Klassengesellschaft greife zu kurz.
„Die brasilianische Kultur mit ihrer außerordentlichen Verarbeitung dieser verschiedenen Urspünge“ nehme bereits jenes Brasilien vorweg, das es nun auf sozialem Gebiet aufzubauen gelte, meint Gil. Brasilien sei ein „neues amerikanisches Projekt. Wir müssen die Nationenbildung vollenden, die ausgegrenzten Teile der Gesellschaft einbinden. Das ist der Ausgangspunkt für die Freundlichkeit, für das gute Zusammenleben der Völker, Ethnien, Hautfarben und Glaubensbekenntnisse.“
„In komplementärer Opposition zur angelsächsischen Strömung entsteht in Brasilien die neue Neue Welt“, fasst Gilberto Gil selbstbewusst zusammen. „Wir sind wie eine große Schule für die Menschheit, die wegen neuer Fundamentalismen, alter und neuer Intoleranz von größeren Fortschritten abgehalten wird.“ Die Welt könne sich am „Friedensbollwerk Brasilien“ ein Beispiel nehmen.