: „Aus der großen Sehnsucht wurden kleine Anfragen“
Wolfgang Wieland, der scheidende Fraktionschef der Grünen, zieht Bilanz: Warum das Feuer für die Landespolitik erloschen ist, er als Vater versagte und glaubt, dass er glücklicher ist als Renate Künast
Interview SABINE AM ORDE und PLUTONIA PLARRE
taz: Als Sie im Oktober letzten Jahres nach Machu Picchu, der Ruinenstadt der Inkas in den Anden, gewandert sind, haben Sie sich da Gedanken über Ihre Zukunft gemacht?
Wolfgang Wieland: Es wäre zwar ein schönes Bild – er steht im Sonnentempel und denkt über seine Existenz nach –, aber es stimmt leider nicht. Ich habe über alles Mögliche nachgedacht, aber darüber nicht.
Stand da schon fest, dass Sie Ende Januar den Fraktionsvorsitz aufgeben?
Nein, ob jetzt oder erst in einem Jahr, das war noch offen.
Warum jetzt?
Das habe ich nach politischen Kriterien entschieden. Wir haben jetzt eine stabile Fraktion, gute Umfrageergebnisse von 16 bis 18 Prozent in Berlin und einen klaren Kurs in der Opposition. Deshalb lieber jetzt als wieder in einer Talsohle oder sogar in einer Neuwahlphase.
Vor einem Jahr gab es bereits Stimmen, die einen Wechsel gefordert haben. Sind Sie gedrängt worden?
Nein, das war meine Entscheidung. Als nach den Neuwahlen klar war, dass das meine letzte Legislaturperiode wird, war auch klar, dass ich nicht bis zum Ende Fraktionsvorsitzender bleibe. Schließlich muss der Neue entsprechend herausgestellt werden und dann den Wahlkampf führen. Früher haben wir abstrakt diskutiert, wann man nicht mehr antreten soll: wenn man selber den Eindruck hat, man hat nicht mehr genug inneres Feuer, man bringt nicht mehr dieselbe Leistung wie früher.
Und so ist das bei Ihnen?
Ja.
Sie wollen auch bei der nächsten Landtagswahl aber nicht mehr antreten. Ist es mit Ihnen als Politiker bald ganz vorbei?
Das wird man sehen. Ich habe aktuell keine Angebote und nichts in der Planung. Ich kann mir vorstellen, wieder nur Anwalt zu sein. Das ist ein Beruf, den ich mit Leidenschaft betreibe.
Können Sie sich ein Leben ohne Berufspolitik vorstellen?
Ja, das kann ich.
Christian Ströbele hat zugegeben, ein Politikjunkie zu sein. Das sind Sie doch auch.
Ja. Ja. Aber deshalb muss ich es ja nicht hauptberuflich tun. Allerdings könnte es sein, dass irgendwann eine neue Aufgabe so reizvoll ist, dass ich sie übernehme.
Auf Bundesebene?
Ja.
Also nach der nächsten Bundestagswahl.
Das klingt so, als würde ich die Tage bis dahin zählen. Sagen wir: Ich schließe das nicht aus.
Warum haben Sie sich vorher nie um ein Bundestagsmandat bemüht?
Solange die ganze Veranstaltung in Bonn war, wollte ich da einfach nicht hin.
Weil Sie – wie Diepgen und Landowsky – nicht von Westberlin lassen konnten.
Ja, aber auch aus familiären Gründen. Ich bin verheiratet …
Ihre Frau ist Arbeitsrichterin.
… und ich habe zwei Töchter. Ich habe die familiären Bezüge immer bis zum Anschlag strapaziert. Wenn jeden Abend, und das ist die Realität, ein Termin ansteht und am Wochenende Parteitage oder Repräsentation, dann bleibt da wenig. Und mir war bewusst: Wenn ich jetzt noch nach Bonn gehe und mich wochenweise verabschiede, dann war’s das.
Ihre Tochter hat mal gesagt: Bei uns zu Hause wird nicht viel über Politik geredet.
Stimmt. Um zu reden, müsste man erst mal da sein. Wenn ich mal da war, habe ich mit ihnen lieber über andere Themen gesprochen: Schule, Freundschaften – womit Kinder sich so beschäftigen.
Schlechtes Gewissen?
Ja, immer wieder. Vor zehn Jahren habe ich der taz mal gesagt: Als Vater habe ich vollständig versagt. Seitdem gebe ich mir mehr Mühe. Aber es ist extrem schwierig, und das werfen mir meine Töchter auch vor: Dir ist doch egal, wo ich in Köln eine Wohnung finde, du besuchst mich doch sowieso nicht. Was zutreffend ist.
Andere Berliner Grüne Ihres Kalibers haben die Landespolitik hinter sich gelassen: Renate Künast, Michaele Schreyer, Andrea Fischer, Christian Ströbele. Nur Wolfgang Wieland macht noch immer den Lokalmatador. Sind Sie manchmal neidisch?
Überhaupt nicht. Dieses Karrieredenken, im Land bist du nichts, auf der Bundesebene alles, das ist doch total eindimensional. Man muss sie eigentlich fragen, ob sie glücklich sind.
Sind Sie glücklicher?
Ja, das glaube ich. Man darf nicht vergessen, mit wie viel Stress und Einbußen im Privatleben es verbunden ist, wenn man etwa Bundesministerin ist. Null Neidgefühl.
Dann lieber der ewige Oppositionelle in der Provinz?
Ja, vielleicht bin ich das. Na und? Es hat mich bislang nicht in den Bundestag gedrängt. Eine Chance, Bundesminister zu werden, hatte ich nie.
Auf Bundesebene sind Sie nie in Erscheinung getreten. Sind Sie überhaupt mal gefragt worden?
Beim Parteitag in Hannover im Dezember bin ich mehrfach angerufen worden. Aber aus gutem Grund habe ich Nein gesagt. Unter diesen Bedingungen kann man doch nicht Bundesvorsitzender werden.
Und unter anderen?
Da hätte ich mir das überlegt.
Nochmal zurück zu den Mühen der Landespolitik. Vermissen Sie Klaus Landowsky?
Manchmal schon. Bei allem Schaden, den er angerichtet hat – ich sage nur mal Rattenrede. Aber in der politischen Debatte war er unbezahlbar. Er hat seine Position eloquent markiert. Da konnte man gut gegenhalten.
Es ist keiner mehr da, an dem Sie sich reiben können?
Ja, der Gegner fehlt. Generell hat das Abgeordnetenhaus eine Entwertung erfahren: Die Spannung, die es in den vergangenen Jahren in den Debatten gab, hat nachgelassen. Das liegt auch an den Personen. Aber nicht nur.
Sondern?
Die großen Themen sind weniger geworden: Ost-West-Auseinandersetzung, der Status Berlins, Protestbewegungen auf den Straßen, Gestaltung der Einheit, Olympiawahn … In Berlin reduziert sich heute alles darauf, wer die pfiffigeren und weniger wehtuenden Einsparvorschläge macht. In der Bundespolitik stehen große Fragen an: die Reformen der Sozialsysteme, der Irakkrieg – das ist spannend.
Sie sind also froh, dass Sie sich das Abgeordnetenhaus bald nicht mehr antun müssen?
Ich könnte mir nicht vorstellen, das noch acht Jahre zu tun.
Keine Lust mehr, über den 1. Mai zu debattieren?
Ab 87 war ich jedes Mal dabei und habe das kommentiert. Irgendwann reicht es. Immerhin haben wir inzwischen einen Innensenator, der den richtigen Kurs fährt zum 1. Mai.
Also doch eine spannende Veränderung?
Aber nicht für mich als Opposition. Gegen Schönbohm, der sowieso mein Lieblingsgegner war, oder auch gegen Werthebach, das hat Spaß gemacht. Gegen Körting können und wollen wir nicht polemisieren. Es ist doch gut, dass er alles in allem eine liberale Innenpolitik macht.
Zehn Jahre lang haben Sie die große Koalition bekämpft, von dem Bruch profitiert die PDS.
So ungerecht sind die Wähler. Und das, obwohl wir die Bankaffäre aufgeklärt und ein Drei-Parteien-Bündnis vorgeschlagen haben. Wir haben mitregiert, das auch ganz gut gemacht und dann das schlechteste Wahlergebnis seit langem eingefahren.
Und Sie sind nach sieben Monaten als Justizsenator wieder in der Opposition. Tragisch.
Ach, tragisch. Tragisch ist, wenn mir ein Stein auf den Kopf fällt und ich tot umfalle.
Doch: tragisch. Sie bringen endlich die große Koalition zu Fall, sind Justizsenator in einem Übergangssenat, und dann gibt es eine rot-rote Regierung und Sie sitzen wieder da, wo sie immer waren: in der Opposition. Das hat etwas Tragisches.
Lassen Sie doch mal das tragisch weg.
Was dann?
Bitter. Das war bitter. Allerdings habe ich viel positives Feedback aus Justizkreisen bekommen, das ist ja auch schön.
Hat die Arbeit im Senat eigentlich Spaß gemacht?
Null. Ich war sehr gern Justizsenator und sehr ungern Mitglied in diesem Senat. Dieses Bild vom Sunnyboy Wowereit und die Art und Weise, wie er die Senatsgeschäfte führt, das ist sehr konträr. Es waren nicht die großen politischen Konflikte, es waren die kleinen Nickeligkeiten: dass Vorlagen aus unseren Häusern ohne Vorwarnung angehalten wurden. Einmal, zweimal, um sie dann im rot-roten Senat genau so zu verabschieden.
Warum haben Sie sich nicht stärker gegen Wowereit durchgesetzt?
Das war nicht möglich. Wir wurden im Juni gewählt, Neuwahlen waren im Oktober. Da konnten wir doch keine Koalitionskrise inszenieren oder mit Auszug drohen. Außerdem wollten wir uns als erfolgreiche rot-grüne Koalition bestätigen lassen. Da kann ich nicht gleichzeitig sagen, der Regierende ist ein Ekel und völlig ungeeignet.
Aber die Wahl zum Justizsenator, die war Ihr persönliches Highlight?
Es war eine absolut interessante Zeit. Aber wenn ich die ganzen Jahre überdenke, gab es auch viele anderen Dinge mit einen ähnlichen Stellenwert.
Zum Beispiel?
Die AL mit aufzubauen, für Fragen innerer Liberalität zu streiten, neue Polizeikonzepte vorzudenken, im Mykonos-Prozess Nebenkläger zu sein, die iranische Opposition zu stärken.
Wie sind Sie eigentlich zum Polizeikenner geworden – oder anders: Wann haben Sie Ihren letzten Stein geschmissen?
Flach übern See vor zwei Jahren. Aber danach fragen Sie nicht.
Richtig.
Ich habe bei Demonstrationen nie mit Steinen geworfen. Das heißt aber nicht, dass ich immer brav gewesen wäre.
Haben Sie sich mit Polizisten geprügelt?
Das habe ich gemacht. Ich würde auch heute nicht ausschließen, dass ich einem Polizisten, der mich oder andere falsch behandelt, in die Parade fahre. Aber das Bewusstsein, dass ein Stein schwere Verletzungen hervorrufen kann, hatte ich schon in meinen wildesten Jahren.
Wann war das?
Ich bin als Student im Frühjahr 1967 nach Berlin zurückgekommen, das war die Zeit der APO. Am 2. Juni war ich vor der Deutschen Oper und habe alles haarklein miterlebt. Prügelnde Polizisten und das Gefühl, Benno Ohnesorg, das hättest du auch sein können. Ich bin über den gleichen Garagenhof abgehauen wie er. Das war die totale Identifizierung.
Im Jura-Repetitorium haben Sie später die Peking Rundschau gelesen.
Auch China im Bild. Und die Zeitung Dem Volke dienen habe ich an der Uni verteilt.
Über Ihre Zeit als Maoist ist wenig bekannt. Ist Ihnen das peinlich?
Nein, aber ich kann das schwer erklären. Das fängt schon bei meinen Töchtern an. Die verstehen nicht, wie man die Kulturrevolution für eine gute Sache halten konnte. Das war ein kollektiver Irrtum. Und es erschreckt mich, wie dicht wir am Stalinismus waren. Wenn ich heute offizielle Texte von damals lese, läuft es mir kalt den Rücken runter.
Ein Teil der Bewegung hat sich in den Untergrund verabschiedet.
Terrorismus schied für mich persönlich ganz klar aus. Aber ich kannte Leute, die mit der RAF und so weiter in den Untergrund gegangen sind. Die Frage, in welchem Maß Gewalt berechtigt ist, hat uns allerdings alle bewegt. Und ob man mit den Leuten von der RAF solidarisch ist und ihnen gegebenfalls auch einen Schlafplatz anbietet.
Wie haben Sie entschieden?
Es hat niemand geklingelt. Das wäre eine schwierige Sache geworden. Aber die Polizei hätten wir bestimmt nicht gerufen.
Warum haben Sie 1978 die Alternative Liste mit gegründet?
Es ging uns darum, die linken Gruppen und die vielen Bürgerinitiativen und Naturschützer in einer Partei zu bündeln. Was wir in den K-Gruppen gemacht hatten, war gesellschaftlich irrelevant. Ich wollte etwas Breiteres, die Spannbreite sollte von Otto Schily bis zu uns – den K-Gruppen – reichen. Ich war schon damals kein Flügelexponent.
In Ihren wilden Jahren wollten Sie die Welt revolutionieren. Und heute?
Damals wollten wir alles, und das sofort. Eine Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung. Diesem Ideal haben wir uns in den gut 30 Jahren vielleicht zwei Millimeter angenähert. Übrig geblieben ist eine Nichtakzeptanz der Ungerechtigkeit in der Welt.
Gemessen an den alten Idealen, treibt Sie die Realpolitik nicht manchmal zur Verzweiflung?
Aus der großen Sehnsucht sind kleine Anfragen geworden, das stimmt. Aber die Alternativen wurden versucht. Ich sage dazu immer spaßeshalber: Dass die Weltrevolution nicht von Westberlin ausgegangen ist, das lag nicht an mir. Ich habe mein Soll übererfüllt. Andere wollten davon nichts wissen. Und das waren 98 Prozent der Bevölkerung.