: Der große Internet-Verkäufer ist offline
Steve Case, der Macher des Online-Riesen AOL, wird von den eigenen Aktionären in Rente geschickt
Eine Mission ist beendet, wenn auch nicht gerade erfolgreich. Am späten Sonntag gab Steve Case offiziell seine Karriere als großer Schrittmacher der Onlinewelt auf. „Im besten Interesse der Firma“, so Case, trete er von seinem Posten als Aufsichtsratschef des Mediengiganten AOL Time Warner zurück.
„Einige Aktionäre machen mich immer noch für das schlechte Abschneiden der Firma verantwortlich“, sagte der Mann mit dem stechenden Blick und dem charismatischen Lächeln eines evangelikalen Sonntagspredigers. Deshalb sei er als Oberaufseher für den Konzern „eine Belastung“ geworden.
Eine zutreffende Analyse – aber doch eine herbe Wendung für Case. Alle Hürden hatte er einstmals niedergerissen, und das war vor allem in den USA auch eine politische Frage: Die mutige, auf die Kernkompetenz von Kampf und Vorwärtsstürmen reduzierte Provinz hatte es dem verkrusteten Establishment gezeigt. Und wie Case es allen gezeigt hatte: Aus einer kleinen Klitsche in Virginia, die er 1985 selbst mit gegründet hatte, hatte er einen der wertvollsten Konzerne der Welt gemacht. Indem er Zugänge zu einem damals noch ominösen Dienst namens Internet vermietete, schuf er America Online – und vermehrte die Abonnentenzahlen schneller, als Grippeviren im November zunehmen. Derzeit verbringen die US-Amerikaner ein Drittel ihrer Zeit im weltweiten Netz bei AOL. Die Aktienkurse rasten hoch, nicht nur Cases Aktionäre wurden reich, auch er selbst.
Als die Internetwelle am höchsten schwappte, landete er seinen größten Coup: Ende 1999 schluckte er den weltgrößten Medienkonzern Time Warner per Aktientausch. Seine ehemalige Klitsche hatte eine Firma im Wert von 83,3 Milliarden Dollar übernommen – samt Zeitschriften-, Musik- und Buchimperien sowie großen Fernsehsendern wie CNN. Es dauerte Wochen, bis die Medienspezialisten den Mund wieder zubekamen. Sie staunten nicht über den Mut von Case, sondern über seine Verkäuferfähigkeiten: Das Managment von Time Warner lockte er mit üppigen Hochzeitsprämien, die Aktionäre seifte er mit einer PR-Kampagne ein.
Kaum war die Fusion vollzogen, begann allerdings das Stirnrunzeln. Je länger die Time-Warner-Manager auf die versprochenen Synergieeffekte warteten, desto kleiner wurden diese. Und die Aktienkurse fielen ebenso. Man war ja inzwischen mehr Internetfirma als Medienestablishment. 54 Milliarden Dollar Miese hat AOL Time Warner als Sonderabschreibung in der Bilanz für seine fallenden Internetwerte ausgewiesen. Und das ist im Klartext weitgehend der AOL-Teil des Konzerns. Von der Ankündigung der Firmenhochzeit bis Ende letzter Woche fiel der Aktienkurs um 80 Prozent.
So etwas macht Aktionäre nicht glücklich. Nach und nach wurden alle AOL-Manager aus dem höchsten Managment des Medienkonzerns entfernt – ein seltenes Schicksal, waren sie es doch gewesen, die die anderen übernommen hatten. Nun ist auch Oberpriester Steve Case an der Reihe.
Damit geht die Ära der jungen Wirtschaftsrevolutionäre weiter ihrem Ende entgegen. Ihr Versprechen der wundersamen Gewinne trat nicht ein, und sie müssen nun wieder eine Weile das Heft denjenigen überlassen, die nicht auf Visionen, sondern auf das tägliche Erbsenzählen bauen. REINER METZGER