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Archiv-Artikel

Prager Intellektueller mit Herz

von TOMÁŠ KAFKA

Die zeitgenössische Geschichte der tschechischen Gesellschaft lässt sich in mancher Hinsicht durchaus wie eine Geschichte voller Märchen deuten. Gut und weniger gut ausgehender Märchen. Das beste Beispiel für ein gutes Ende ist sicher die „sanfte“ oder „samtene“ Revolution des Jahres 1989. Nur zehn Tage brauchten Tschechen und Slowaken, um die kommunistische Führung zu stürzen. Weniger gut verlief dagegen der viel beschworene „tschechische Weg“, auf dem die Gesellschaft ins gelobte Land des westeuropäischen Wohlstands geführt werden sollte.

Die märchenhafteste Komponente findet sich dennoch an einem anderen Ort. Sie hängt, wie in der Märchenwelt üblich, mit der magischen Zahl drei zusammen. Doch da Tschechien keine Monarchie ist, bezieht sie sich weder auf Prinzen oder Frösche, sondern auf Politiker. Ihre Namen sind Václav Klaus, Miloš Zeman und Václav Havel. Zwei von ihnen prägten als Ministerpräsidenten die Geschichte(n) des Landes, der dritte als Präsident.

Die drei von der Moldau: Havel, Klaus und Zeman

Manches haben diese drei Politiker gemein. Erstens ihre Zielsetzung, dem Lande eine bessere Zukunft zu bescheren. Zweitens die Wahl ihrer Waffen, die auf die persönliche Überzeugungskraft im Positiven wie auch im Negativen setzt. Und drittens eint sie der Grund für die Nichtvollendung ihrer Mission und somit für die Landung in einer märchenlosen Realität: allen drei wurde eines Tages ihr eigenes Land zu klein.

Dies ließe sich als Verlust der Anbindung an die örtlichen Verhältnisse deuten. Es kann aber auch als Ausschöpfung des vorhandenen Reservoirs an natürlicher Neugier gewertet werden, mit der man sich der tatsächlichen Situation im Lande ins Auge zu schauen traut.

Václav Klaus wollte schon anfangs der 90er-Jahre die Gesellschaft in ein ultimatives Gefühl der Zufriedenheit mit sich selber versetzen. Dies hätte die postkommunistische Gesellschaft mit sich selbst versöhnt und ihm das Regieren erleichtert. Miloš Zeman wiederum versuchte, die Tschechen um jegliche selbstbezogene Illusion zu bringen. Diese Bestrebung forcierte er mittels der Polarisierung sowie Marginalisierung der Gesellschaft. Sie sollte die Früchte seines „Machens“ genießen und dabei in tiefe Dankbarkeit verfallen.

Havel – Aktivist der unpolitischen Politik

Hier nun unterscheidet sich Havel von den beiden anderen. Bei ihm stand die aktive Gesellschaft stets im Mittelpunkt des Interesses. Von Anfang an verfolgte der Präsident seine „unpolitische Politik“ – eine Politik jenseits der Parteien. Schaut man jedoch genauer hin, weist sowohl die „unpolitische Politik“ als auch ihr Verfechter gravierende Veränderungen auf.

Ursache dieser Veränderungen ist die zunehmende Ungeduld. Eine Ungeduld, die auch bei Klaus und Zeman anzutreffen ist, sich jedoch bei Havel subtiler artikuliert. Aus der „unpolitischen Politik“ wurde mit der Zeit das politische Mantra der Zivilgesellschaft, deren Stärkung einen Ausweg aus den zunehmenden Spannungen in der parteidominierten Vertretungsdemokratie schaffen sollte.

Zugleich verlor Havel nie völlig das Interesse an seinen Anhängern und Widersachern. Sein „zivilgesellschaftliches“ Model sollte sie alle zu besseren Menschen werden lassen. Bei Havels Modell kam es ja nicht primär auf die politischen Geschicke des Landes an. Ganz im Gegenteil. Die Zivilgesellschaft sollte bereit sein, im Zweifelsfalle mit jeder Autorität abzurechnen. Demzufolge war Havel bereit, notgedrungen auch sich selbst zugunsten seines politischen Konzepts aufzuopfern.

So zumindest will dieses Konzept gelesen werden. Eine durchaus noble Geste, die gerade in der Märchenwelt bei dem Märchenvolke gut ankommen müsste, zumal der Betreffende schon für sein Volk einige Zeit hinter Gittern verbracht hat. Doch Tschechien ist kein Märchenland. Man kann also nicht anders, als sich dem Land und seinem scheidenden Präsidenten nun in seiner realen Darbietung zuzuwenden.

Havel – ein rotes Herz auf dem Hradschin

„Wahrheit und Liebe sollen Lüge und Hass besiegen!“ Damit sind wir mittendrin in der Realität. Mit diesem Ansatz, umgesetzt in einen Wahlslogan, trat Havel seine erste Präsidentschaft im Jahre 1989 an. Mit ihm hat auch das dem Präsidenten nahe stehende Bürgerforum 1990 seinen inzwischen durchaus historischen Erdrutschsieg eingefahren.

Zu diesem Zeitpunkt war Havel nicht nur die unumstrittene, sondern die unantastbare Autorität auf der tschechischen und womöglich auch der tschechoslowakischen Politszene. Nichtdestotrotz tauchten schon damals spöttische Kommentare auf, wonach der „Herr Präsident“ bei seiner Affinität zum politischen Pathos etwas kürzer treten solle. Pathos ist übrigens in der tschechischen Geschichte des 20. Jahrhunderts Mangelware. Für die Karriere des Präsidenten Havel ist in diesem Zusammenhang aber lediglich relevant, dass er zu seinen Symbolen – sollten diese ruhig auch in öffentliche Missgunst geraten – steht.

Es ist daher nur folgerichtig, dass die Ära des Präsidenten Havel, an dessen Anfang ein pathetischer Spruch stand, 13 Jahre später mit einem leuchtenden Herzen auf dem Hradschin zu Ende geht. Man kann dem mit Spott und Häme begegnen – was hierzulande nicht nur dank des 20. Jahrhunderts üblich ist. Man sollte aber das Maß kennen. Havel war kein „Präsident der Herzen“. Havel war in erster Linie ein Staatsmann – vielleicht ein Staatsmann mit Herz. Was jedoch den eigentlichen Charme sowie die politische Botschaft Havels ausmacht, hat vielmehr mit seinen intellektuellen Leistungen zu tun. Sie lassen sich drei Themen zuordnen.

Havel – der tschechische Verfassungspatriot

Ohne zu übertreiben, kann man feststellen, dass Václav Havel in seiner politischen Praxis zu einem der wichtigsten Verfechter des Verfassungspatriotismus in Tschechien geworden ist. Es mag sein, dass er dazu erst in dem Moment wurde, als er die Vereinfachung des Wahlsystems zugunsten der beiden größten Parteien des Landes verhinderte. Havel ist damals bis vor das Verfassungsgericht gezogen und hat so das Exempel statuiert, dass man manche Dinge – auch wenn sie nützlich erscheinen – einfach zu unterlassen hat. Gerade in Deutschland mit seiner Traditition des Verfassungspatriotismus sollte diese Einstellung auf Sympathie stoßen.

Havel – zwischen Deutschen und Tschechen

Das zweite Themenfeld umfasst die Entspannung der historisch belasteten Beziehungen der tschechischen Gesellschaft zur Außenwelt. Da diese Belastungen am meisten das Verhältnis zu den unmittelbaren, historischen Nachbarn betrafen, ist ein Bezug auf Deutschland so gut wie vorprogrammiert. Es wäre zwar ungerecht, die Rolle von Havel in diesem Zusammenhang nur auf die deutsch-tschechischen Beziehungen zu reduzieren. Doch das Verhältnis zu Deutschland lag Havel offensichtlich am besten. Hier konnte der Staatsmann seinen Intellekt sowie sein Herz optimal einsetzen.

Nicht zufällig führte ihn seine erste Reise als frisch gekürtes Staatsoberhaupt – zur Verstimmung der polnischen Nachbarn – nach Deutschland. Doch die Politik der Symbole scheint in den deutsch- tschechischen Beziehungen noch weniger Bedeutung als in der tschechischen Gesellschaft zu haben.

Übrigens – und auch das ist kein Zufall – hat sich Havel seine erste kalte Dusche gerade in Bezug auf Deutschland geholt. Es ging dabei um seine inzwischen legendäre Entschuldigung für die Vertreibung der Sudetendeutschen, die allerdings – abgesehen von einigen kontraproduktiven Reaktionen hinsichtlich der Vermögensfragen – unbeantwortet geblieben ist. Dies trug sich 1989 zu, und aus Havel sprach damals überwiegend sein Herz.

Als in den folgenden Jahren in den Mittelpunkt der gemeinsamen Geschichtsverarbeitung mehr und mehr vermögensrechtliche Fragen traten, musste Havel dann auf den Intellekt setzen. Dies kristallisierte sich in einer Rede, die der Präsident 1995 im Rahmen der Reihe „Gespräche über die Nachbarn“ an der Prager Karlsuniversität hielt. Damals stellte er zwei Komponenten der tschechischen Reflexion über Deutschland fest: Inspiration und Schmerz. Mit dieser Einsicht sowie der Stärkung der inspirativen Komponente glückte es den Repräsentanten beider Länder 1997, einen belastungsfähigen Kompromiss in der Gestalt einer gemeinsamen Erklärung zusammenzubekommen.

Diese Erklärung ist kein ausschließliches Verdienst Havels. Doch er war derjenige, der einen neuen, eben intellektuellen Stil für die damals zum Sorgenkind der europäischen Verständigung gewordenen deutsch-tschechischen Auseinandersetzungen gefunden hat. Schade, dass eine ähnliche Versachlichung ihm nicht auch beim europäischen Disput über die Bedeutung des tschechoslowakischen Präsidenten Beneš und die von ihm erlassenen Vertreibungsdekrete glückte. Havel weiß, dass „diese Geschichte ein großes Dilemma der modernen Zeit“ ist, doch dies politisch zu kommunizieren, bleibt eine Aufgabe für künftige tschechische Politiker.

Havel – zwischen Moskau und Washington

Das dritte Thema ist für Havel das Wichtigste, und hier hat er auch sein Meisterwerk vollbracht. Es geht um die Bestrebung, die alten, aus der Zeit des Kalten Krieges herrührenden Dilemmata der Gesellschaft zu überwinden und Akzeptanz für Tschechien als verlässlichen Bündnispartner zurückzugewinnen.

Der Beitritt zur Nato 1999 war so ein Happyend, das allerdings mehr in das 20. als das 21. Jahrhundert passt. Die Welt und ihre Herausforderungen haben sich inzwischen geändert. Demzufolge muss ein neuer Anfang auf dieses Happyend folgen. Gerade auf diesen Neuanfang konzentrierte sich Havels Aufmerksamkeit, als er beim Prager Nato-Gipfel im November 2002 eine Grundsatzrede zur Zukunft der euroatlantischen Partnerschaft hielt.

Eines seiner Schlagworte war dabei die „Bruderhilfe“, und es versteht sich von selbst, dass der Präsident dies nicht allein auf die sowjetische im Jahre 1968 bezog. Gemeint war vielmehr, das man Werte und Modelle anderen nicht aufpfropfen könne. Dieses Nachsinnen über ein Wort, das auch die gegenseitigen Vorurteile auf beiden Seiten des Atlantiks in sich einschloss, war womöglich das Beste, was zu dem Problem der anhaltenden Anspannungen zwischen Europa und den USA gesagt wurde.

Reden allein machen die Welt zwar nicht unbedingt besser. Manchmal bringen sie aber wichtige Impulse. Schmerz und Inspiration – mit diesen Begriffen hatte Havel über die deutsch-tschechischen Beziehungen nachgedacht. Warum sollte er nicht die Kommunikationshemmungen auch in anderen Beziehungen beheben? Es ist zu befürchten, dass der Schmerz in der Zukunft sicherlich präsent sein wird. Umso mehr kommt es auf die Inspiration an. Daher war es wichtig, dass Havel bei der Reintegration der tschechischen Gesellschaft in die „westlichen“ Strukturen – sei es nun die Nato oder die EU – nicht nur die hausgemachte Befindlichkeit im Sinne hatte, sondern sich auch um die allgemeine Verständigung bemühte.

Weltweit gibt es nur wenige Menschen, denen man heute noch solche Überlegungen abnimmt. Das sollten auch die Tschechen begreifen. Doch im Moment sieht es nicht danach aus. Im Fadenkreuz der Beobachter des Präsidenten steht das leuchtende Herz auf dem Hradschin. Soll Václav Havel wirklich als „Präsident der Herzen“ in die Geschichte eingehen? Die Realität kann ziemlich ignorant sein.