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: HELMUT HÖGE übers Ostberliner Nachtleben

Einige intime Details der Partnersuche

Das „Malibu“, die Discothek im Freizeitforum am Ende der Marzahner Promenade, nimmt 7 Euro 50 Eintritt. Darin ist ein Frühstück um halb sechs enthalten. Hier suchen und finden die einsamen Marzahner Herzen zwischen 18 und 48 einander und immer wieder aufs Neue. Angeblich soll die „gute Atmosphäre“ darauf zurückzuführen sein, dass Ausländer dort nur „in Ausnahmefällen“ reindürfen.

Viele MarzahnerInnen gehen zu zweit, zu dritt oder zu viert ins Malibu. Jede(r) zweite kaut Kaugummi. Und zwar wird das Gummi erst zwischen den Backenzähnen weich geknetet, wobei es mit der Zunge mal zur linken und mal zur rechten Kieferhälfte geschoben wird. Dort bleibt es auch – sozusagen in der Ruhezone, wenn gesprochen, getrunken oder geraucht wird, danach geht das Gekaue aber gleich weiter. Die Frauen kauen angelegentlicher und nicht so verbissen wie die oft glatzköpfigen Männer, von denen viele bereits eine ausgeprägte Kiefermuskulatur besitzen, was ihrem Kaugummikauen die Funktion des Gesichtsbuildings gibt.

Zwischendurch schieben Männer wie Frauen das Gummi immer mal wieder mit der Zunge nach vorne und versuchen es dort quasi zwischen den Schneidezähnen zu zerbeißen, wobei sie die zumeist sowieso schon zu schmal gewordenen Lippen zusammenpressen und gleichzeitig mit der Zungenspitze von der anderen Seite dagegenhalten. Gerne lassen sie dabei auch ein Stück Gummi aus dem Mund kucken. Das wird dann durch Öffnen des Mundes mit der Zunge wieder reingeholt – und sodann von innen mit der Zungenspitze gegen die Schneidezähne geplättet. Einige öffnen anschließend den Mund noch mal kurz, wobei sie die Lippen nach außen wölben – und pusten gegen das dünne Gummi, woraufhin dieses sich zu einer kleinen Blase auswölbt, die für Momente sichtbar wird und dann mit einem kurzen Knall platzt.

Den Knall, obwohl er sehr leise ist, hört man trotz der lauten Discomusik, wie ebenso manchmal auch ein schmatzendes Geräusch, das bei allzu heftigem und überspeicheltem Kaugummikauen entsteht. Nicht selten stößt man unter einem Stuhl oder Tisch auch auf ein ausgekautes Kaugummi, das sein Besitzer dort heimlich entsorgt hat. Zwei Frauen sah ich, die ihr Kaugummi die ganze Zeit zwischen den Weisheitszähnen zermalmten. Sie mahlten so langsam, die eine links, die andere rechts, und waren so in das Disco-Geschehen versunken, dass es auch einer Art Entsorgung gleichkam, zumal sie nur alle paar Minuten kauten und jedesmal nur einmal, wobei sie kaum die Kiefer auseinander kriegten.

Wieder eine andere Frau schien überhaupt nicht zu kauen, sondern die Kaugummikugel nur immer mit der Zungenspitze im Rachenraum herumzudrehen. Manchmal drückte sie die Kugel auch kurz am Gaumen platt, wo sie sie mit der Zunge glättete. Vielleicht gab ihr diese Tätigkeit das Gefühl, mit der Zunge in einem fremden Mund herumzutasten, ihn mit der Zungenspitze zu streicheln. Ich weiß es nicht. Es geschah auch immer nur einige Sekunden, dann wurde die Kaugummiplatte wieder vom Gaumen gelöst und zu einer Kugel geformt erneut im Rachenraum hin und her bewegt, wobei sich der Unterkiefer unwesentlich mitbewegte.

Einen Mann sah ich, der sich etwas zu essen bestellt hatte. Als der Teller mit dem Gericht kam, kaute er noch einmal wollüstig und wie wild drauflos, dann rollte er das Gummi ebenfalls zu einer Kugel, die er mit zwei Fingern aus dem Mund nahm und vorsichtig auf den Tellerrand ablegte. Nach dem Essen steckte er das Kaugummi wieder in den Mund, wobei er es diesmal eher als Zahnstocherersatz benutzte. Er schob es überall hin in seiner Mundhöhle, sogar zwischen Lippen und Kiefer, um damit gleichsam das Zahnfleisch zu polieren.

Um vier Uhr stand ich auf und ging. Einer der Türsteher fragte mich: „Warum so früh?“. Ich sagte, dass ich noch im „Kalinka“ vorbeischauen wolle. Das ist eine Russlanddeutschen-Disco in Lichtenberg, Alt-Friedrichsfelde, wo übrigens ebenfalls viel Kaugummi gekaut wird, was ich mir immer damit erkläre, dass die Einfuhr dieses Gummis in die Sowjetunion bis 1987 verboten war – es wurde einem an der Grenze abgenommen. Ich fand das immer politisch völlig korrekt. Schon gleich nach der Wende trumpfte deswegen „Wrigley’s Spearmint“ ganz groß mit Werbung im russischen Fernsehen auf.