: Die große Form hat Angst
In den Sechzigern entstanden Architekturentwürfe, die mehr Sciencefiction waren als konkrete Planungen. Die Ausstellung „Megastructure Reloaded“ zeigt futuristische Stadtmodelle, aber auch Kritik am sauberen Denken im Großmaßstab
VON MARCUS WOELLER
Über die Meeresbucht zieht sich ein geflochtenes Band von Schnellstraßen und Magnetschwebebahnen. Dazwischen stehen künstliche Inseln, Industrieplattformen, Gebäuderiegel und Grünanlagen. Rechtwinklig zweigen Brücken ab zu Schlafstädten, die sich wie überdimensionale Zeltplätze aus Stahlbeton über dem Wasser erheben. Wie eine Spange hat sich Tokio über das Meer ausgedehnt. Hat den festen Boden städtischer Traditionen weit hinter sich gelassen und sich als urbaner Metabolismus der Zukunft ermächtigt.
So sah es jedenfalls Kenzo Tanges Plan für die Stadterweiterung der japanischen Metropolis 1960 vor. Der Entwurf war utopisch und visionär, aber keineswegs abwegig, denn Tokio litt unter ständiger Bevölkerungszunahme. Demografen prognostizierten die Verdopplung der acht Millionen Einwohner binnen dreißig Jahren. Atemberaubende Theorie ist der Plan geblieben. Die „Megastruktur“ aber wurde zu einem Schlagwort, das die Architektur zwei Jahrzehnte lang beschäftigten sollte. Die Ausstellung „Megastructure Reloaded“ überprüft nun die historischen Zusammenhänge dieser Stadtentwürfe und konfrontiert sie mit künstlerischen Stellungnahmen der Gegenwart. Die Kuratoren, Sabrina van der Ley und Markus Richter, haben den nahezu perfekten Ort dafür gefunden: Die entindustrialisierte alte Münzpräge am Molkenmarkt liegt in unmittelbarer Nachbarschaft von Großstrukturen im Kleinen: der Niederländischen Botschaft von Rem Koolhaas, dem vorfabrizierten Rokoko des Nikolaiviertels und der Neuinterpretation der Fischerinsel als Hochhausquartier.
Urvater der Megastruktur war, natürlich, Le Corbusier. Auf der Suche nach einem neuen Bauen wollte er schon in den 1920er-Jahren die große Geste nach Brasilien oder Algerien bringen. Ein markantes Hochhausband mit krönender Autobahn sollte Rio de Janeiro veredeln und elegant geschwungene Betonregale das Wohnchaos von Algier beseitigen. Während Le Corbusier mit dem Charme der Freihandzeichnung lockte, operierten die Architekten der 1960er-Jahre mit dreidimensional darstellender Axonometrie, die jede Bauzeichnung in ein geometrisches Spiel von Dreiecken, Bienenwaben und Polyedern verwandelt.
In den Projekten mischen sich gleichfalls die spielerische Lust am Entwerfen als auch der radikale Bruch mit architektonischen Prinzipien der Vergangenheit. Die Schau versucht, die ganze Bandbreite zu zeigen – zwischen Architekturphilosophie und dem Versuch, sie in die Tat umzusetzen. So präsentiert sie die Popstars des Megastrukturalismus, die Gruppe Archigram, in einem psychedelischen Kabinett des Swinging London.
1964 veröffentlichte Archigram unter dem Motto „Große Struktur“ Stadtentwürfe, die aus der Erdkruste hervorbrachen, bewohnbare Riesenmaulwurfshügel erzeugten oder Raumkluster in die Luft emporschraubten. Arata Isozaki, der im Büro von Tange gearbeitet hatte, steuerte Entwürfe bei, aber auch Frei Otto, der später die biomorphe Architektur des Münchner Olympiastadions baute. Zum Kern der Gruppe zählte Dennis Crompton, der nun auch die Ausstellungsarchitektur zusammen mit raumlabor_berlin verwirklicht hat und damals die halbvirtuelle „Computor City“ propagierte. Seine Kollegen Peter Cooke und Ron Herron sind ebenfalls vertreten – Cooke mit der einflussreichen „Plug-In City“, Herron mit dem Stadtroboter auf Teleskopbeinen, der „Walking City“.
Stärker als ihre englischen Kollegen strebten die Anhänger von Raumtragwerken zumindest die Teilumsetzung ihrer Ideen an. Von Eckhard Schulze-Fielitz gibt es etwa ein lange verschollen geglaubtes Modell seiner „Raumstadt“ zu sehen. Er setzte auf die raumbildende Kraft von 90°-Winkeln, Waagerechten und Senkrechten. Als Grundstruktur seines Entwurfs dient ein unendlich in Breite und Höhe erweiterbares Gitternetzsystem aus Stahlträgern, in das je nach Bedarf Raummodule eingesetzt werden können. Damit bricht er mit einigen zentralen Dogmen der Baukultur, nämlich der Permanenz des Bauwerks und der Gestaltung durch den Architekten. An die Stelle des konventionellen Baukünstlers tritt der Planer, der einerseits die Freiheit zum nutzungsabhängigen Design erteilt, andererseits aber die zugrunde liegende Großform zum gültigen Maßstab erklärt. Endlich schien es möglich, einen theoretischen Überbau in der Praxis Gestalt annehmen zu lassen – als Megastruktur.
Neben allen statischen Ungereimtheiten und Spaß an der Zukunftsgläubigkeit spiegelt die Ausstellung auch die Skepsis der Architektenzunft an der historischen Stadt wider. Von gewachsener Urbanität geht im Verständnis der Architekten und Städtebauer anscheinend latent eine Gefahr aus, die nur durch Planung und strukturelle Eingriffe zu lösen ist. An dieser Stelle hat schon Anfang der 1970er die italienische Gruppe Superstudio angesetzt, die auf die rigide Planungswut mit Sarkasmus antwortete. Gordon Matta-Clark fräste sich durch ein barockes Pariser Haus, bevor es mitsamt seinem Viertel dem Centre Pompidou weichen musste.
Ehemaliges Gelände der Staatlichen Münze, Molkenmarkt 2, 10179 Berlin. Bis 2. November, Di.–So. 12–19 Uhr