: Dorn am Auge
„Ich bin ein Spießer“: Der Handballer Stefan Kretzschmar unterläuft mit Piercings und öffentlichen Bekenntnissen den Zwang zur Subversion
von DIRK KNIPPHALS
Ein noch nicht zu Ende geschriebenes Kapitel der bundesrepublikanischen Mentalitätsgeschichte betrifft die Karriere, die das Wort Spießer gemacht hat. In den hier und da so gern verklärten wilden Zeiten – demonstrieren!, frei lieben!, taz gründen! – gab es diesbezüglich ja wohl drei Basics, auf die sich alle einigen konnten. Erstens: Spießig sind immer die anderen. Zweitens: Spießertum ist etwas Doofes; irgend etwas mit nicht ausgelebten Trieben vermutete man im Hintergrund. Drittens: Spießer sind auf den ersten Blick zu erkennen, denn ihre Spießigkeit steht ihnen sozusagen ins Gesicht geschrieben.
Tja, und nun im Ernst: Unter diese Episode des Denkens hat jetzt spätestens der Handballstar Stefan Kretzschmar – der Mann, dessen Körperkunst Sie auf unserem Bild ausschnitthaft bewundern können – einen dicken Schlussstrich gezogen. Erstens bezeichnete er sich selbst als Spießer. „Natürlich, ich bin ein Spießer“, sagte er in einem Interview. Haben Sie so einen Satz schon mal von einem Alt-68er gehört? Wir meinen ja nur. Zweitens wertete er diese eigene Spießigkeit in einen positiven Wert um; es ist das traute Glück mit Franziska van Almsick, das ihn zu der Selbstanalyse brachte. Drittens ist er trotzdem nicht als Spießer zu erkennen. Denn es ist ja nicht so, dass die Zeichen der Dissidenz in ihrer prolligen Heavy-Metal-Variante, die Stefan Kretzschmar schmücken, inzwischen selbst spießig geworden sind. Man kann nur offenbar von keinem Zeichen mehr automatisch auf eine bestimmte Geisteshaltung schließen. Das Spießerglück zu zwein geht mittlerweile zusammen mit Piercing, Tattoos und Ich-hau-dir-in-die-Fresse-Blick. Stefan Kreztschmar: ganz der ideale Schwiegersohn.
Wenn man hinzunimmt, dass Harald Schmidt uns schon seit vielen Jahren die Subversion mit Schlips und Anzug nahe bringt, mag man ermessen, welchen Weg unsere Gesellschaft seit den übersichtlichen Zeiten der späten Sechzigerjahre zurückgelegt hat. Spießer drüben, Gegenkulturen hüben – das gilt alles längst nicht mehr.
Denkt da wirklich noch jemand, wir lebten in einer nivellierten Einheitskultur?
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