: Die Prostata wird warten müssen
Heute beginnen die Ärzteproteste. Verbände demonstrieren gegen Nullrunde und „Systemwechsel“. Sie warnen ihrePatienten vor einer „Zuteilungsmedizin“ wie in Großbritannien. Doch nicht alle Ärzte wollen sich am Bummelstreik beteiligen
von ULRIKE WINKELMANN
Kann man Patienten warten lassen, aber nicht gegen sich aufbringen? Dieses kleine Experiment am lebenden Objekt werden ab heute die niedergelassenen Ärzte in vielen Regionen Deutschlands durchführen.
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) erklärte gestern in Berlin, dass die meisten ihrer 23 Regionalverbände gegen die Politik der SPD-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt protestieren wollen. Patienten müssen nun also mit verschiedenen Formen ärztlichen Zuwendungsentzugs rechnen. Die KV Berlin etwa, seit jeher radikal, will ab dem 29. Januar für fünf Wochen in einem „rollierenden System“ dafür sorgen, dass alle Fachärzte ihre Praxis einmal in der Woche schließen. An jedem Tag sollen 20 Prozent der Praxen ihre Arbeit einstellen.
Nur „vordergründig“ gehe es dabei ums Geld, sagte KBV-Chef Manfred Richter-Reichhelm gestern. Denn Schmidt hat den Ärzten eine Nullrunde verordnet. Der „wahre Grund“ der Empörung sei jedoch der „drohende Systemwechsel“. Die „Facharztpraxis ist vor dem Aus“, erklärte Richter-Reichhelm. Wenn Schmidt sich durchsetze, müssten die Fachärzte in Netzwerken und mit Krankenhäusern zusammenarbeiten. „Das heißt: ab ins Angestelltenverhältnis.“
Mit ihrem Protest wollen die Ärzte die Patienten schon einmal fühlen lassen, was auf sie zukommen könnte, wenn die KBV mit ihren Prognosen Recht hätte: Wartezeiten „wie in den Niederlanden und Großbritannien“ und „Zuteilungsmedizin“. Dringende Fälle würden natürlich während der Protestaktionen behandelt. Aber Patienten, die bloß nach Routinekontrollen etwa der Augenwerte oder einer Standard-Prostata-Untersuchung verlangten, müssten eventuell „drei bis fünf Monate“ warten. Zum angekündigten „Dienst nach Vorschrift“ gehört auch, nur noch Generika und keine Original-Präparate zu verschreiben. So verlangt es das Sozialgesetzbuch. „Die Patienten bekommen ein Medikament, aber vielleicht nicht mehr das, was sie gewöhnt sind“, so Richter-Reichhelm.
Die Ärzte hoffen auch, das Problem des gültigen Abrechnungssystems bekannt zu machen. Nach ihren Rechnungen bekommen sie dank der Budgetierung durch die Kassen teils nur 80, 70 oder 60 Prozent der Leistungen vergütet. Dienst nach Vorschrift heißt also, dass die Ärzte nur noch leisten, was ihnen die Kassen im Rahmen des vorgesehenen Budgets bezahlen. Alle weiteren Leistungen würden dann nach Möglichkeit aufs nächste Quartal verschoben.
Diese Protestformen der KBV werden allerdings nicht von allen Ärzten gebilligt. Der Hausärzteverband erklärte gestern, er halte Praxisschließungen für „unzumutbar“. Wolfgang Meunier vom Verbandsvorstand sagte, Proteste dürften „nicht im Wartezimmer stattfinden“. Grund: Die Allgemeinmediziner haben andere Interessen als die Fachärzte, denn Ulla Schmidt plant, die Hausärzte als „Lotsen im System“ zu stärken.
Das Gesundheitsministerium bezeichnete die geplanten Praxisschließungen als rechtswidrig. Staatssekretär Klaus Theo Schröder rief dazu auf, streikende Ärzte bei den Krankenkassen zu melden, und legte den Patienten nahe, den Arzt zu wechseln, wenn dieser die Arbeit verweigert. Dies beträfe auch den Hartmannbund, der ab heute ausgerechnet in Westfalen-Lippe die Praxen immer mittwochs schließen will. Für alle, die nicht die Arbeit verweigern wollen, findet heute der „Aktionstag“ des „Bündnis Gesundheit“ statt. Dieser Zusammenschluss fast aller medizinischen und Pflegeverbände wird in mehreren Großstädten demonstrieren.
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