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Archiv-Artikel

Gesprächstherapie als Rezept

Hamburgs Ärzte wollen nicht streiken, sondern reden. Aber mit Überstunden und Attesten ist jetzt Schluss: Stattdessen Dienst nach Vorschrift. Langfristige Forderungen: Weg mit Budgets, her mit Aufschlag auf Zigaretten und mehr Eigenbeteiligung

von SANDRA WILSDORF

Hamburgs Ärzte wollen nicht streiken, sondern reden. Kassenärztliche Vereinigung (KV) und Ärztekammer propagieren den Dienst nach Vorschrift. Und das heißt: Mit den Überstunden ist jetzt Schluss. Die Funktionäre haben errechnet, dass Hamburgs Ärzte im vergangenen Jahr 640.000 Überstunden erbracht haben. Anders gesagt: Im Schnitt arbeitet jeder einen Nachmittag die Woche umsonst.

Dienst nach Vorschrift heißt aber auch: „In den kommenden Wochen werden die Ärzte ihre Leistungen so erbringen, wie es die Ministerin sich wünscht“, sagt KV-Vorsitzender Michael Späth. Was es bisher ausnahmsweise noch mal gratis gab, obwohl es nicht im Katalog der gesetzlichen Krankenversicherung steht, muss der Patient künftig bezahlen. Beispielsweise Atteste, reisemedizinische Untersuchungen und Beratungen. Auch für das Einholen einer Zweitmeinung, ohne dass der behandelnde Arzt dem zustimmt, soll der Kranke künftig aus eigener Tasche zahlen. „Das ist Chipkartenmissbrauch“, findet Späth.

Während der konservative Hartmannbund demnächst auch Praxen in Hamburg tageweise schließen will, damit die Mediziner sich fortbilden können, vertreten KV und Kammer eher die Linie „der Platz des Arztes ist an der Seite seiner Patienten“, sagt Michael Reusch, neuer Ärztekammer-Präsident. Deshalb lautet die Devise: „Informieren statt streiken.“

Hamburgs Ärzte wollen mit ihren Patienten über die Zukunft des Gesundheitswesens und die Folgen der geplanten Gesundheitsreform ins Gespräch kommen. Denn klar sei: „Nirgendwo sonst auf der Welt haben die Menschen so einen breiten Zugang zur Medizin“ sagt Reusch. In Schweden beispielsweise koste jeder Arztbesuch 90 Euro, in England und den Niederlanden gebe es Wartelisten. Bestimmte Operationen werden anderswo ab einem gewissen Alter nicht mehr gemacht, in Deutschland bekommt jeder alles. „Wir Ärzte geben uns nicht dafür her, zu entscheiden, ab wann es beispielsweise keine Dialyse mehr gibt“, sagt Reusch. Politiker sollten endlich Verantwortung übernehmen.

Der Anteil der Gesundheitskosten am Bruttoinlandsprodukt sei seit Jahren nicht gestiegen: „Wir haben kein Kostenproblem. Wir haben ein Einnahmeproblem.“ Denn bei zunehmender Arbeitslosigkeit und auch demographisch bedingt immer weniger Arbeitnehmern sänken die Einnahmen der gesetzlichen Krankenversicherungen kontinuierlich. Außerdem habe der Staat den Krankenkassen immer mehr aufgebürdet: „Würde man die sachfremden Leistungen nicht mehr die Kassen bezahlen lassen, würden die Beiträge sofort auf zwölf Prozent herunter gehen“, sagt Reusch. So haben zum Beispiel Mutterschaftsgeld, Sterbegeld und finanzielle Unterstützung für Arbeitslose und Rentner nichts mit Krankheit zu tun.

Kurzfristig wollen Reusch und Späth erst mal die Budgets abgeschafft wissen. Langfristig fordern sie unter anderem einen „sachbezogenen Aufschlag auf Nikotin und Alkohol.“ Reusch: „Nikotin ist der mit Abstand größte Kostenverursacher im Gesundheitssystem. Ein Aufschlag auf Zigaretten, „ist fairer als Atemkontrolle“.

Reusch spricht sich aber auch für eine größere Eigenbeteiligung und das Prinzip der Kostenerstattung aus. Wenn der Patient die Rechnung des Arztes vorstrecken muss, bevor er das Geld von der Kasse zurück bekommt, „ist das auch die natürlichste Form der Kontrolle“, sagt der neue Ärztekammer-Chef.