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Archiv-Artikel

ulrike herrmann über Non-Profit Hallo, tschüss

Frauen lernen sich immer dadurch kennen, dass sie sich als Erstes ihr größtes Problem erzählen

„Glaubst du, dass Susanne schon eine Psychotherapie hinter sich hat?“ Monika und ich stehen auf einer Party, wo noch mindestens 40 andere Leute herumstehen. Aber wir kennen sonst niemanden in dieser schicken Altbauwohnung. Es ist alles, wie es sich für Berliner mit Stil gehört: Es gibt Stuck, Holzdielen, weiße Regale, einige dunkle Antiquitäten und moderne Kunst, die nicht zu modern sein darf. Zum Beispiel Modigliani. Genau neben dem roten Akt in Öl auf Poster steht die einzige Frau, die wir schon einmal auf dieser jährlichen Party getroffen haben. Eben Susanne. Sie steht außer Hörweite, und wir versuchen gar nicht erst, uns zu ihr durchzudrängeln. Denn eines unserer Partyhobbys ist die Ferndiagnose.

Monika zum Beispiel fragt sich fast immer, wer noch „Clubmitglied“ sein könnte, wie sie Ex-Psychotherapiepatienten nennt. Fast drei Jahre lang hat sie dreimal in der Woche auf der Couch gelegen. „Und zwar wirklich auf der Couch!“ Das erstaunt jeden und auch sie selbst. Sie hatte zwar nichts gegen die Couch, fand es aber trotzdem merkwürdig, dass Freud kein Klischee der Vergangenheit ist, sondern der eigene Alltag. Auch nach rund 300 Stunden auf der Couch konnte sie nicht glauben, dass man tatsächlich auf einer Couch liegen kann, während die Psychotherapeutin im Rücken schweigt, bis man verzweifelt anfängt zu sprechen. Über alles, über nichts, nur damit man nicht noch einmal das tonlose „Und?!“ von hinten hören muss.

„Und?“ Irgendwann fragte auch ich, obwohl es mir peinlich war. Aber Monika verstand sofort, sie kannte das von ihren Freunden. Ja, es habe sie „weitergebracht“. Vielleicht hätten auch andere Therapien oder weniger Stunden geholfen; vielleicht reichte schon aus, dass sie sich überhaupt entschieden hat, Hilfe anzunehmen. Obwohl Monika nicht gern behaupten würde, dass es eine „Entscheidung“ war. Sie glitt einfach hinein in ihre Therapie. Man könnte auch sagen, dass ihr Internist für sie entschieden hat. Dort war sie Dauergast. Denn mal war ihre Magenschleimhaut entzündet, mal wurden ihr alle Pullover am Kragen zu eng. „Du kennst doch das Sprichwort vom ‚Kloß im Hals‘.“ Irgendwann stellte ihr Arzt sie vor die Wahl: Man könne gemeinsam auf eine weitere psychosomatische Krankheit warten – oder sie gehe gleich zur Psychotherapie. Der Kloß im Hals war schon nach der ersten Sitzung verschwunden, einen neuen Freund hat sie bis heute nicht.

„Und was weißt du jetzt über dich und deine frühe Kindheit?“, habe ich damals noch weitergefragt. „Nichts“, antwortete sie ratlos. Es gehe gar nicht ums „Wissen“, sondern um die „negativen Gefühle“. Um Scham und Wut. „Die muss man zulassen.“ Es klingt merkwürdig, dass sie über sich selbst redet, als wäre sie Musterpatient im Lehrbuch. Das findet auch Monika, aber sie könne ihre Erfahrungen auf der Couch nicht anders beschreiben.

Es sind Erfahrungen, die trennen – und verbinden. Für Monika sind die Ex-Psychotherapiepatienten eine Art moderne Freimauererloge, die sich an Geheimzeichen erkennen. „Zum Beispiel sehen sie dir alle in die Augen.“ Aber sie gibt zu, dass dies auch Menschen können, die keine Psychotherapie erlebt haben. Vielleicht verbindet die meisten Expatienten eher, dass sie sich sowieso so ähnlich sind. Monika hat im Warteraum ihrer Therapeutin nur attraktive Frauen unter 40 getroffen – „und alle sahen aus, als hätten sie ihr Leben schon im Griff“.

Monika staunte darüber nicht einmal, schließlich ist das Phänomen hinreichend beschrieben. Man hat schon gar keine Lust mehr, sich zu fragen, was es bedeutet. Ob die Frauen alle eine krankhafte Kontrollmacke anerzogen bekamen, die ihre Gefühle versperrt – oder ob sie gesünder sind als viele depressive Männer, weil sie immerhin erkennen können, dass sie Hilfe brauchen. Vielleicht schließen sich die beiden Thesen gar nicht aus. Vielleicht braucht man Kontrolle über die eigene Seele, um zu glauben, dass sie rebelliert und bedürftig ist.

Monika ist auch immer gern bereit, bei der Selbsterkenntnis nachzuhelfen. Zum Beispiel bei Susanne. „Sie sieht blass aus“, lautet die Ferndiagnose. „Vielleicht steht ihr auch nur das Rot von Modigliani nicht“, versuche ich noch zu bremsen. Aber auch nur halb. Es stimmt ja. Susanne sieht unglücklich aus. Vor fast zwei Jahren wurde sie von ihrem Freund verlassen. Das hat sie uns das letzte Mal erzählt, denn Frauen lernen sich ja immer dadurch kennen, dass sie als Erstes ihr größtes Problem mitteilen. Jetzt fällt es mir auch wieder ein: Schon letztes Jahr hatte Monika zu einer Psychotherapie geraten. „Ratschläge sind auch Schläge“ ist ein Standardspruch unserer Bekannten.

Susanne kommt auf uns zu. „Hallo“, sagen wir. „Tschüss“, antwortet sie bissig und strebt zum Buffet. Oh.

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