Alter vor Schönheit

Donald Rumsfeld hat mit dem „alten Europa“ Recht. Dennoch ist das „neue Europa“ keine Erfolgsgeschichte. Denn der US-Kapitalismus lässt sich nicht so einfach exportieren

Der rheinische Kapitalismus hätte 1988 eine russische soziale Marktwirtschaft ermöglicht

So ärgerlich es ist, Donald Rumsfeld hat Recht. Das „neue Europa“ östlich der Oder steht in vielen Punkten dem amerikanischen Denken näher als der westliche Teil des Kontinents. Besonders ärgerlich daran: Wir sind selbst daran schuld. Seit Jahrzehnten suhlen die Alteuropäer sich selbstmitleidig in der vermeintlichen Eurosklerose und überlassen damit im Konkurrenzkampf der Gesellschaftssysteme dem amerikanischen Vulgärkapitalismus kampflos das Feld.

Dabei wäre es doch so einfach gewesen. Bereits 1991 hat der Franzose Michel Albert dem polnischen Präsidenten Lech Walesa ein Vorbild empfohlen, das, wie von diesem erträumt, „die Effizienz und den Wohlstand des amerikanischen Kapitalismus und die relative soziale Sicherheit des ehemaligen kommunistischen Systems miteinander verbindet“ – uns. „Ist eigentlich bekannt, dass Deutschland von dieser Vorstellung gar nicht so weit entfernt ist?“, fragte Albert damals.

Es war natürlich nicht bekannt. Die Deutschen waren damals so damit beschäftigt, den Umbau im eigenen Land zu versaubeuteln, dass sie keine Energie mehr übrig hatten, um ihren östlichen Nachbarn einen sowohl erträglichen als auch ertragreichen Weg in die Marktwirtschaft zu weisen. Deshalb stürzte sich Polen in die vom Harvard-Professor Jeffrey Sachs verordnete Schocktherapie und muss nun langsam an die europäischen Strukturen und Institutionen herangeführt werden, die es genauso gut schon 1991 hätte aufbauen können.

Und nicht nur in Polen, auch in Tschechien und anderen mittel- und osteuropäischen Umbruchgesellschaften haben die jeweiligen Reformkräfte einem Kapitalismus den Weg gebahnt, der für sie so ziemlich der am schlechtesten geeignete war: dem „american way of capitalism“. Denn, so Michel Albert: „Der tugendreiche rheinische Kapitalismus ist medienpolitisch eine absolute Null. Alles für den Erfolg, doch nichts, um auch jemandem zu gefallen. Der amerikanische Konkurrent hingegen erobert die Bühne und präsentiert sich der Öffentlichkeit aufgeputzt, romanhaft, gleichsam wie von tausend Legenden umwoben.“

Besonders schmerzhaft erfuhren in den 90er-Jahren die Bürger der Exweltmacht Sowjetunion die Realität hinter dieser glitzernden Fassade. Michael Gorbatschow hatte sich nämlich in der Reihenfolge geirrt: Erst Glasnost, dann Perestroika hieß seine Strategie; also erst Demokratie, dann Marktwirtschaft. „Wenn sich bei uns eine Demokratie entfaltet, wenn uns das gelingt, werden wir den Sieg davontragen“, lautete seine Überzeugung. Das ging schief. Die Demontage der einzigen stabilen Machtbasis, der Partei also, hinterließ just in der Zeit ein Machtvakuum, als es darum gegangen wäre, die Rahmenbedingungen für die neu entstehenden Märkte festzusetzen und auch ihre Einhaltung zu kontrollieren.

Ohne Zentralgewalt, rein den Wolfsgesetzen freier Marktwirtschaft folgend, mutierte die Perestroika zur skrupellosen Aneignung ehemals volkseigenen Vermögens in den Händen einiger Raubritterunternehmer. Binnen wenigen Jahren entwickelte Russland die klassische Vermögens- und Einkommensverteilung einer Bananenrepublik: Eine winzige Oberschicht lebt in Saus und Braus und außerhalb der Reichweite von Polizei und Justiz. Die Mittelschicht ist schmal und stark vom Wohlwollen der Konzernoligarchen abhängig. Und der große Rest der Bevölkerung kann sich abstrampeln, um den nächsten Winter zu überleben.

Heute mag die Vorstellung absonderlich klingen, dass Russland eine soziale Marktwirtschaft hätte werden können. Aber ein selbstbewusster rheinischer Kapitalismus hätte vor 15 Jahren die Weichen dafür gestellt. Wir sind zwar nicht glitzernd – aber müssen wir deshalb auch gleich auf jegliches Selbstvertrauen verzichten? Mag sein, dass wir keine Chance haben, unser System auf dem Weltmarkt der Ideen als das bestgeeignete zu verkaufen. Aber wir sind dazu verpflichtet, es wenigstens zu versuchen – weil es das bestgeeignete ist. Und weil das amerikanische System zwar für die Amerikaner selbst das bestgeeignete sein mag, für den Export in andere Länder aber denkbar ungeeignet ist.

Denn das US-System benötigt, um ordentlich funktionieren zu können, eine entscheidende Ressource: eine enorme gesellschaftliche und individuelle Mobilität und Flexibilität. Über diese Ressource verfügt aber nur ein einziges Land im notwendigen Ausmaß: eben die USA selbst. Dort ist die enorme Ungleichheit, die der Darwin-Kapitalismus produziert, mit dem „pursuit of happiness“ verbunden, also mit der Aussicht auf individuellen Aufstieg: Hey, du kannst es schaffen, ganz nach oben zu kommen! Und nicht nur du: Jeder kann es schaffen, egal wo er startet.

Eine Gesellschaft, die das US-System anwendet, ohne über die Durchlässigkeit zu verfügen, wie sie der US-Gesellschaft Eigen ist, wird dagegen für einen Großteil der Bevölkerung nur Armut ohne Perspektive produzieren. Und so wie einem solchen Land an der Basis der gesellschaftlichen Pyramide die Zukunftsperspektive fehlt, so fehlt sie auch ganz an der Spitze. Denn wer in einem nach US-Art wirtschaftenden Land den Marschallstab im Tornister trägt, wer das Talent und den Willen hat, um bis ganz nach oben zu kommen – der wird sich wahrscheinlich für das Original entscheiden und nicht für die Kopie; der wird seinem Land verloren gehen und in die USA auswandern. Das „land of the free“ profitiert schließlich seit Jahrhunderten davon, dass die mobilsten und flexibelsten Menschen aus aller Herren Länder sich für sein Versprechen der unbegrenzten Möglichkeiten entscheiden.

Das US-System braucht so viel Mobilität, wie es sie eben nur in den USA gibt

Das US-Wirtschaftssystem ist nur mit massivem Qualitätsverlust exportierbar. Trotzdem wird es in die ganze Welt ausgeführt. Das deutsche Wirtschaftssystem hingegen würde mit weit geringerem Qualitätsverlust für den Auslandseinsatz taugen. Es bietet nämlich die mit Abstand besten Ansätze, um mit immobilen und unflexiblen Menschen eine dynamische und produktive Volkswirtschaft zu produzieren; es ist nicht auf schumpetersch kühne Unternehmer angewiesen, um Innovationen hervorzubringen; es kann mit einem relativ einfachen Set von Regeln und Kontrollmechanismen eine leidlich funktionierende Ökonomie zustande bringen, die sich dann, erst einmal funktionierend, fast von allein optimiert. Es wäre also besser als jedes andere System geeignet, um weltweit gleichzeitig eine Zunahme von Wohlstand und eine Abnahme von Armut zu erreichen.

Die Konsequenz daraus ist ebenso einfach wie unerhört: Es ist geradezu die Pflicht der deutschen ökonomischen Eliten, für eine weltweite Verbreitung des deutschen Wirtschaftssystems zu werben und die Ausbreitung des US-Systems zu verhindern. Militärisch und politisch sind die Europäer den Amerikanern weit unterlegen. Nur ökonomisch kann es uns gelingen, sie alt aussehen zu lassen.

DETLEF GÜRTLER