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Archiv-Artikel

„Der Geist von Ariel Scharon lebt fort“

Der Ausbau der Siedlungen im Westjordanland geht weiter, während die Nahost-Verhandlungen auf der Stelle treten. Denn Israel sei noch nicht zu einem Abkommen mit den Palästinensern bereit, meint der Publizist Michael Warschawski

MICHAEL WARSCHAWSKI, 1949 in Straßburg geboren, lebt seit 1965 in Israel. Er war viele Jahre lang Vorsitzender der israelisch-palästinensischen Organisation Alternative Information Centre (AIC). Zuletzt veröffentlichte er mit Gilbert Achcar: „Der 33-Tage-Krieg. Israels Krieg gegen die Hisbollah im Libanon und seine Folgen“ (2007, Edition Nautilus). Eine längere Version des Interviews ist in der Zeitschrift „Kommune“ erschienen.

taz: Herr Warschawski, der Nahost-Friedensprozess kommt nicht voran, nur der Ausbau jüdischer Siedlungen im Westjordanland geht munter weiter. Warum hält Israel so daran fest? Selbst US-Außenministerin Rice hat das kritisiert.

Michael Warschawski: Weil der Ausbau der Siedlungen Teil einer umfassenden Strategie ist. Insbesondere die Regionen, die nahe der „Grünen Linie“ liegen, will Israel de facto annektieren. Das geht am besten, indem man vollendete Tatsache schafft.

Offiziell verhandelt Israel über seine künftige Grenze, viele Siedlungen werden ja illegal errichtet. Spricht das nicht gegen eine kohärente Strategie?

Das Siedlungsprojekt setzt sich aus staatlichen und privaten Initiativen zusammen. Und den Siedlern und ihren Baugesellschaften ist es völlig gleichgültig, ob sie eine Genehmigung haben oder nicht, um ihre Siedlungen auszubauen. Sie brauchen keine offizielle Unterstützung der Regierung, denn sie haben ihre politische Unterstützung – das ist viel wichtiger.

Wer hat denn die Macht in den besetzten Gebieten: die Regierung oder die Armee?

Dort regiert de facto die Armee – und die ist strukturell eng mit den Siedlern verbunden. Es gibt meiner Meinung nach einen Masterplan für die Kolonisierung des Westjordanlands, der auf Ariel Scharon zurückgeht. Er hat diese Politik über mehr als 30 Jahre hinweg gestaltet.

Was war Scharons Ziel?

Scharon betrachtete das Westjordanland als einen offenen Raum, der erobert werden kann – die Amerikaner würden „frontier“ dazu sagen. In der Zwischenzeit kann es „langfristige provisorische Übereinkünfte“ geben, wie Scharon sie nannte – auch Oslo war in seinen Augen so eine provisorische Lösung. Das ist das genaue Gegenteil von Rabin oder Barak, die den Konflikt endgültig beenden wollten – am besten in zehn Minuten.

Wer führt Scharons Politik heute noch fort?

Die Armee – und die Regierung unterstützt sie dabei. Scharon war, wie schon Staatsgründer Ben Gurion, dagegen, dass Israel eine endgültige Grenze definiert. „Unsere Grenze verläuft da, wo wir den letzten Baum pflanzen“, lautet ein berühmtes Statement von Ben Gurion, das Scharon immer wiederholt hat. Oder, wie er selbst es ausdrückte: „Der Unabhängigkeitskrieg ist noch nicht zu Ende.“ Er wollte für die nächsten 50 Jahre kein Friedensabkommen mit den Palästinensern – um in dieser Zeit Tatsachen schaffen zu können.

Welche Zukunft schwebte Scharon in seinen Plänen für die Palästinenser vor?

Scharon war klar, dass sie sich nicht, wie 1948, einfach vertreiben lassen würden. Also war er dafür, die Palästinenser in isolierten Zonen leben zu lassen und ihnen eine begrenzte Form der Souveränität zu geben – einen Kanton in Dschenin, in Nablus oder in Ramallah. Er sagte ihnen: „Das ist euer Land, ihr könnt es Staat, Reich oder Königreich nennen, wie immer ihr wollt. Aber ich, Scharon, baue weiter Siedlungen, pflanze Bäume und israelisiere den übrigen Raum.“

Wie steht die Mehrheit der Israelis dazu?

Die meisten Israelis interessieren sich einfach nicht dafür. Wie viele andere koloniale Gesellschaften auch, haben wir eine Kolonialverwaltung, über deren interne Vorgänge selbst Teile der Regierung nicht informiert sind. Ich bin sicher, viele Minister wissen nicht, wo die „Grüne Grenze“ verläuft. Die Armee weiß das dagegen sehr genau.

Gerade streitet die israelische Regierung darüber, ob sie jüdischen Siedlern, die freiwillig aus dem Westjordanland wegziehen, eine Entschädigung anbieten soll. Viele leben ja nur in den Siedlungen, weil es dort billiger ist – und nur wenige, wie in Hebron, aus religiöser Überzeugung. Erleichtert das eine politische Lösung?

Die Mehrheit der Siedler lebt definitiv nur aus ökonomischen Gründen dort. Für die meisten von ihnen ist das die einzige Möglichkeit, zu einem günstigen Preis an ein hübsches Eigenheim zu kommen, das sie sich weder in Jerusalem noch in Tel Aviv leisten könnten. Wenn man ihnen eine vergleichbare Alternative oder eine Entschädigung anböte, würden sie gehen.

Könnte die internationale Gemeinschaft da nicht ein wenig nachhelfen?

Schauen Sie sich das Urteil des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag über die Mauer an. Es hat sich mit der Siedlungspolitik im Westjordanland beschäftigt und festgestellt, dass diese eklatant dem Völkerrecht widerspricht. Was will man mehr? Was fehlt, ist die Bereitschaft, dieser Einsicht auch Taten folgen zu lassen. Die gab es aber schon in der Vergangenheit nicht. Und heute erst recht nicht, weil die Europäer heute fast alle auf die amerikanische Linie eingeschwenkt sind.

Ist eine Zweistaatenlösung zwischen Palästinensern und Israelis überhaupt noch realistisch? Viele zweifeln daran.

Die Frage ist falsch gestellt. Es ist ja nicht so, als ob man in den Supermarkt geht, und dort entweder eine große Flasche Bier oder drei kleine kauft. Die Frage ist vielmehr, ob man an eine kurzfristige Einigung glaubt – dann wird es auf eine Teilung hinauslaufen, indem neben Israel ein palästinensischer Staat entsteht. Oder ob man meint, dass sich diese Option erübrigt hat. Dann bleibt nur noch die langfristige Perspektive übrig. Und was in zwei oder drei Generationen geschieht, wissen wir nicht. Vielleicht wird Palästina dann ein Teil Jordaniens sein? Oder Israel ein Teil von Zypern?

Glauben Sie das wirklich?

Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass keine Situation unveränderbar ist. Die französische Kolonialherrschaft über Algerien endete nach 130 Jahren. Warum soll die Besatzung des Westjordanlands da unüberwindbar sein?

Weil es keine Kraft gibt, die das durchsetzen kann und will?

Es kommt darauf an, was die Palästinenser wollen. Solange die große Mehrheit der Palästinenser einen solchen Staat für möglich hält – so lange ist er möglich. Und in ihren Köpfen ist der Wunsch nach einem eigenen Staat nach wie vor sehr lebendig.

Zerfleischen sich die Palästinenser nicht inzwischen selbst? So scheint es, wenn man den Machtkampf zwischen Fatah und Hamas betrachtet.

Auch wenn manche Szenen, die man in Gaza sehen konnte, schwierig sind: Das Maß an innerpalästinensischer Gewalt ist relativ gering, wenn man es mit anderen Weltgegenden vergleicht. Ich denke, es wird absichtlich dramatisiert. Außerdem hat es nichts mit Hamas zu tun. Immerhin war es der proamerikanische Flügel von Fatah, der versucht hat, die Hamas im Gazastreifen mit militärischen Mitteln zu stürzen, was zur jetzigen Situation geführt hat.

Aber die Raketen, die aus dem Gazastreifen auf israelische Städte wie Sderot und Aschkelon fliegen, liefern der israelischen Armee doch einen perfekten Vorwand für militärische Aktionen. Außerdem sind sie unmoralisch, weil sie die Zivilbevölkerung treffen.

Ja, sie sind kontraproduktiv – so, wie es die Selbstmordanschläge waren. Aber sie sind in gewisser Weise unvermeidbar. Wenn einem alle anderen Wege des Widerstands verschlossen bleiben – was soll man machen? Was machen Gefangene, wenn sie eine Gefängnisrevolte anzetteln? Sie schmeißen Matratzen und Stühle aus dem Fenster. So ähnlich ist es im Gazastreifen. Nur, dass es in diesem Fall selbstgebastelte Kassamraketen sind.

INTERVIEW: MARTIN FORBERG