: Gespenster an der Kaffeetafel
Die falsche Reliquie: Marius von Mayenburgs Stück „Der Stein“ packt sechzig Jahre deutsche Geschichte in eine Dresdner Villa. Nicht nur das Parkett ist marode in der Kolportage um Vertreibung und Enteignung, die Ingo Berk an der Schaubühne inszeniert
VON ESTHER SLEVOGT
Wenn sich die deutsche Familie am Kaffeetisch niederlässt, ist Vorsicht geboten. Denn dort finden sich meist schneller, als der Kuchen auf die Teller verteilt worden ist, die Gespenster der Vergangenheit ein. So kannte man es von Thomas Bernhardt, der aus solchen Szenarien der deutschen Gemütlichkeit immer wieder die Monstrositäten der Geschichte hervorbrechen ließ. Und so ist es jetzt auch bei den drei Damen Heising, die gerade ihre Villa in Dresden zurückbekommen haben: Großmutter, Tochter und Enkelin.
Sie sitzen am Kaffeetisch, und Großmutter Witha verschlingt riesige Kuchenstücke, wobei ihr spindeldürrer Körper befürchten lässt, dass sie ihn hinterm Rhododendron im Garten gleich wieder auskotzen wird. Seit man in den Westen ging, hatten im Haus DDR-Familien gewohnt. Die sind nun weg, die zurückgelassenen Vorhänge pittoresk verblasst. Das Parkett ist bedrohlich aufgequollen, an manchen Stellen aufgebrochen, so dass man auf viel braune (!) Erde blickt.
Plötzlich taucht hinter dem Rhododendron geisterhaft ein junges Mädchen (Lea Draeger) auf. Doch schnell ist klar: Sie ist kein Gespenst, sondern eine ehemalige Bewohnerin des Hauses zu DDR-Zeiten, die nun gekommen ist, um den Frieden der Heimkehrer zu stören. Das Gespenst sitzt dafür längst mit am Kaffeetisch: Frau Schwarzmann, der das Haus gehörte, bevor die Heisings kamen.
So will es der Plot von Marius von Mayenburgs Familienstück „Der Stein“, das Ende Juli bei den Salzburger Festspielen von Ingo Berk uraufgeführt und nun an der koproduzierenden Schaubühne angekommen ist. Und so wollte es nach 1989 die Gesetzgebung: als sie die Grundbücher wieder öffnete, nach dem die DDR die Eigentumsfrage bereits auf dem Müllhaufen der Geschichte gewähnt hatte. Es entstand das Amt für offene Vermögensfragen, wo man das Rad der Geschichte zumindest in Sachen Grundbesitz wieder zurückdrehte und dabei auch allerhand andere offene Fragen zu Tage förderte. Denn nicht selten waren die Rückkehrer aus dem Westen, die nun Anspruch auf ihre Ostimmobilien erhoben, lediglich die Nachkommen der Ariseure gewesen, die die Häuser jüdischen Besitzern weggenommen hatten. Die DDR hatte die enteigneten deutschen Juden nie entschädigt.
Im vorliegenden Fall sehen die Heimkehrer zunächst recht ehrbar aus: Nachkommen eines Hitlergegners, der von den Nachbarn mit Steinen beworfen wurde, weil er den jüdischen Vorbesitzern der Villa zur Flucht ins Ausland verhalft. Einen dieser titelgebenden Steine bewahrt die Familie wie eine Reliquie auf. Doch schon der divenhafte Dreißiger-Jahre Chic von Großmutter Witha sorgt schnell für Risse im Bild. Judith Engel spielt sie wie die hysterische, bulimische Version von Madga Goebbels, was wenig Gutes verheißt. Ihr Gegenbild ist die verhärmte Tochter Heidrun, mit bitterer Inbrunst von Bettina Hoppe gespielt. Sehr bald kriegt man mit, dass hier nicht nur das Parkett aufbricht, sondern langsam auch die Lügenfassade, mit der Großmutter Witha die Nazi-Vergangenheit der Familie zur Widerstandslegende umfunktioniert hat. Geschickt verschachtelt von Mayenburg Zeit- und Erzählebenen, weshalb der Abend durchaus Suspense entwickelt. Denn langsam enthüllt der Fortgang der Dinge, dass der Vater die Notlage der Vorbesitzer ausgenutzt und sie am Ende der Gestapo ausgeliefert hat.
Freilich wird hier sehr dick aufgetragen: Als die Russen kommen, erschießt sich der Vater mit den Worten „Heil Hitler!“ auf den Lippen. Die Nazitochter mit dem Germanennamen Heidrun hat das eigene Kind auf den jüdischen Namen Hannah getauft.
Das Subtilste am Stück ist seine Konstruktion, die langsam auch die Identität der jungen Frau Schwarzmann offenbart, die von Anfang an mit am Heising’schen Kaffeetisch sitzt. Es ist die Frau des jüdischen Vorbesitzers (Eva Meckbach).
Meist ist man dennoch gut unterhalten von Mayenburgs kolportagehaftem Historienstück, wenn man auch mitunter bangt, dass er zu tief in die Klischeekiste greift. Ungleich subtiler ist beispielsweise Jenny Erpenbeck in ihrem Roman „Heimsuchung“ mit dem Thema Restitution umgegangen, in dem sie die Geschichte eines Hauses am See und seiner Bewohner erzählt – und zwar jeweils aus deren Perspektive, weshalb es nie zum moralischen Showdown kommt. Daher bedauert man, dass Berk von Mayenburgs Geschichte von den bösen Deutschen allzu treuherzig inszeniert hat. Dabei hätte zumindest Judith Engel, die aus den Klischees immer wieder bösartige Funken schlägt, das Format zur ironischen Monstrosität einer Thomas-Bernhardt-Figur. Doch dafür hätte es etwas schwarzen Humor und Distanz zur braven und auch wohlfeilen Moral der Geschichte gebraucht.
Wieder am: 28. + 29. 10, 4.–6. 11. in der Schaubühne