Meer vergiften, Reform verwässern

Die Umweltstiftung WWF weist in neuer Studie unverändert hohe Schadstoffbelastung in Nordsee und Wattenmeer nach. Ursache auch für Seehundsterben von 2002. Hoffnung auf neues Chemikaliengesetz der EU mit Beweislast beim Hersteller

aus Hamburg SVEN-MICHAEL VEIT

Manchmal können selbst Umweltschützer vorsichtig optimistisch sein. Patricia Cameron vom World Wide Fund for Nature (WWF) zum Beispiel setzt große Hoffnungen auf eine von der EU anvisierte Reform der Chemikalienverordnung. „Das wäre ein großer Fortschritt“, glaubt die Meeresschutzexpertin, denn die „unsichtbare Giftfracht“ vor deutschen Küsten müsse endlich eingedämmt werden.

Die neue Studie über die Schadstoffbelastung des Wattenmeeres an der Nordseeküste zwischen Dänemark und den Niederlanden, die Cameron gestern in Hamburg vorstellte, ist eine Dokumentation hunderter „tickender Zeitbomben“. Die Langlebigkeit der Chemikalien, die das Meer und dessen Fauna und Flora verseuchen, hat „erschreckende Folgen“, so Cameron, auch für Menschen. Es müsse „jeder individuell entscheiden, ob und wie häufig er Fisch oder Muscheln isst“. Als Faustregel gelte: je fetter das Tier, desto ungesünder dessen Verzehr.

Seit Jahrzehnten ist die Belastung mit Umweltgiften in Muscheln oder Flundern gleich bleidend hoch, weist die Studie nach, bei Aalen hat sie sogar zugenommen. Und das, obwohl eine Reihe hochgiftiger Stoffe inzwischen verboten ist. Krebs erregende PCBs (Polychorierte Biphenyle) dürfen seit zehn Jahren nicht mehr hergestellt werden, vorhanden sind sie gleichwohl in unverändert kritischem Maße in Fischen und Möweneiern ebenso wie bei den Meeresbewohnern, die am Ende der Nahrungskette stehen, den Schweinswalen und Seehunden.

Das große Seehundsterben in Nord- und Ostsee im vorigen Sommer ist nach Ansicht des WWF auch auf die Giftkonzentrationen zurückzuführen. Sie bewirken eine Schwächung des Immunsystems und führen so zum Ausbruch von Krankheiten wie der Seehundstaupe, der mehr als 10.000 Tiere zum Opfer fielen.

Etwa 12.000 chemische Verbindungen gelangen nach Schätzung des WWF regelmäßig über Luft oder Flüsse ins Meer, „aber nur 28 davon werden aus Kostengründen überhaupt kontrolliert und gemessen“, weiß Cameron. Besonders hoch sind die Schadstoffkonzentrationen in den Mündungsbereichen der großen Flüsse Elbe, Weser und Ems. So wurden im Sediment der Emsmündung noch voriges Jahr Konzentrationen von Phthlaten – seit 1992 verbotene Weichmacher in Waschmitteln – nachgewiesen, welche die Grenzwerte um das 600fache überschritten. Der vorsichtige Optimismus von Cameron gründet sich auf ein neues Chemikaliengesetz, welches EU-Kommission und -Parlament im nächsten Jahr beschließen wollen. Danach sollen sämtliche gefährlichen Stoffe, auch bislang zugelassene, neu überprüft werden. Die Beweislast soll danach bei den Herstellern liegen. Wer nicht nachweisen kann, dass sein Produkt ungefährlich ist, müsse dann mit einem Herstellungsverbot rechnen. Der WWF rechnet deshalb mit erheblichem Widerstand der Chemie- und Pharmalobby auf das Gesetzgebungsverfahren. „Wir werden diese Reform massiv unterstützen“, kündigte Cameron gestern an.