Vom Führer und seinem Untertan

aus Pjöngjang IRENÄUS A. MISERA

In den ersten Nächten konnte ich schlecht schlafen. Es ist ein eigenartiges Gefühl zu wissen, dass man in einer Millionenstadt in der Stadtmitte in der direkten Nähe der mehrspurigen Straßen ist und sonst völlige Stille herrscht, unterbrochen nur durch das Krähen vereinzelter Hähne, die sich in der Uhrzeit vertan haben. Es ist stiller und ländlicher als in der Eifelidylle Hallschlag. […]

Das Kollektiv ist die richtige Antwort auf alle Fragen und die einzig richtige Lösung aller Probleme. Darauf ist hier die Gesellschaft aufgebaut, es ist ihr Fundament. Schon die Kindergärten und Schulen haben eine sehr wichtige Aufgabe diesbezüglich. Die allgemeine Wissensvermittlung ist höchstens zweitrangig. Eine große Ausnahme stellt natürlich das Wissen über das geniale Gedankengut der „Geliebten Führer“ (Vater und Sohn) dar. Denn nur sie sind der Schlüssel zu einem reifen und wertvollen Mitglied der Gemeinschaft. Die Kinder werden also tagelang, vom frühen Morgen bis zum späten Nachmittag, aber immerhin mit einer Mittagspause damit beschäftigt, auf allen größeren Plätzen der Städte den Gleichschritt zu üben und zwar in der prallen Sonne. […]

Fahrt in die Provinz

Gestern sind wir zurück aus Haeju gekommen. Wir hatten da schon zum wiederholten Male übernachtet. Die Stadt ist ungefähr 150 km von Pjöngjang entfernt, ein Drittel der Strecke besteht aus einer leeren Autobahn. Man fährt dahin aber trotzdem circa zwei Stunden. Der Rest der Strecke besteht nämlich aus einer mit Betonplatten ausgelegten Straße mit entsprechenden Schlaglöchern. Der Verkehr ist nicht dicht: Traktoren mit Anhängern, es überwiegen Modelle der Fünfzigerjahre, häufig mit einem aus Latten zusammengezimmerten Fahrerhäuschen, außerdem Laster – von den Modellen der Vierzigerjahre bis zu modernen. Vor allem auf dem Lande trifft man gar nicht so selten auf Lkws mit Holzvergasern, die mir bisher nur aus Büchern über den Zweiten Weltkrieg bekannt waren. Es sind auf der Ladefläche aufgestellte stark rauchende Öfen, in denen glühende Holzscheite Leuchtgas zum Antrieb des Motors erzeugen.

Die moderneren Fahrzeuge verschiedenster Typen gehören meist dem Militär. Es sind japanische Pkws, Geländewagen, Klein- und Großbusse. Die einzigen BMWs in dem Lande tragen Militärkennzeichen. Aber circa 80 bis 90 Prozent des Personenfernverkehrs findet auf den Anhängern der Traktoren und den Ladeflächen der Laster statt. Die Ränder der Landstraßen säumen unzählige Fußgänger, Radfahrer und Rastende, was das zügige Vorankommen nicht unbedingt leichter macht.

Die Rastenden verdienen eine besondere Erwähnung. Es sind meist Schlafende. Direkt am Straßenrand, manchmal aber auch auf der Fahrbahn. Manche nutzen die am Straßenrand abgestellten Anhänger als Schattengeber und machen es sich unter ihnen auf Reismatten bequem. Ich muss immer wieder staunen und bewundern, welche Schlafstellen und -positionen von den Menschen eingenommen werden. Ich sah einen Mann auf einer runden Zisterne schlafen, ein anderer fand einen Platz zusammengefaltet im Kasten einer Art von Schubkarren. Die Schlafenden findet man zu den verschiedensten Tageszeiten vor. Es ist wirklich auffallend, wie viele es sind. Ich erkläre mir das so, dass die Leute sehr lange, wohl auch tagelang unterwegs sind und nachts vielleicht aus irgendwelchen Gründen lieber wachen oder gehen als schlafen. […]

Das ganze Volk, jede Berufsgruppe betrachtet den ewigen und genialen Präsidenten als Lehrer und ist froh über jeden weisen Hinweis zur Lösung ihrer Probleme. Seine Weisheit und Größe finden ebenfalls Anerkennung bei den internationalen Organisationen. Bildnisse beider unumstrittenen Führer hängen im Arbeitszimmer des Leiters des UN-Entwicklungsprogramms und anderer UN-Organisationen in Pjöngjang. Ein großes Bildnis beider geliebten Führer zwischen einer großen Schar von Kindern (manche wehrhaft mit Gewehren in der Hand) ist auch im Flur gegenüber des Haupteingangs zum Unicef-Gebäude zu sehen. Abseits hängen kleine Bilder von Kofi Annan und der Unicef-Chefin. Abendliche Spaziergänge offenbarten mir auch den Wandschmuck in allen privaten Wohnungen als einen weiteren Beweis der Verehrung und der Verbundenheit mit der Führung.

Dürre und Regen

Vor einigen Monaten fand eine Besichtigung der Dürreschäden statt. Mitglieder der Hilfsorganisationen wurden von der nordkoreanischen Regierung dazu eingeladen. Der Besichtigungsort war circa 20 Kilometer außerhalb Pjöngjangs. Man fuhr kilometerlang an überfluteten Reisfeldern vorbei. Die Reise führte zu einem einer ausgetrockneten Talsperre. Die koreanischen Begleiter erzählten begeistert und pathetisch die Geschichte des Baus der Talsperre und wie der Geliebte und Weise Führer den Bauingenieuren wertvolle Hinweise zum Bauort und Verlauf der Staumauer gegeben hatte.

Die Agrarexperten der hier vor Ort ansässigen Hilfsorganisationen, die selbst die Augen aufhalten und keine fremde Meinung bedenkenlos übernehmen, wollen von keiner Dürrekatastrophe sprechen und hören. Die Niederschläge verteilen sich nicht ganz regelmäßig. 40 bis 60 Prozent fallen im Juli und August als Monsunregen und bis zu 80 Prozent in den vier Monaten von Juni bis September. Und das ist schon seit Ewigkeit so. Es gab Trockenheitsschäden auf den abgeholzten Hängen der bergigen Landschaft. Wohl nach einer Direktive werden hier Felder überall angelegt, auch an den ungünstigsten Stellen. Wenn alles die normalen Erträge bringen würde, müsste Nordkorea die vierfache Bevölkerungszahl ernähren können. Katastrophal ist nicht die Dürre, sondern die Ineffizienz und die Misswirtschaft, die das System hervorbringt.

Inzwischen ist die Erntezeit vorüber und die Ernte wird als sehr gut eingeschätzt. Der mit der Hand geerntete und gebündelte Reis lag häufig im Wasser der weiterhin überfluteten Felder und faulte tagelang vor sich hin. Direkt nebenan auf bereits geräumten Feldern konnte man vor allem alte und tief gebeugte Personen sehen, die auf der Suche nach einzelnen verloren gegangenen Reisähren waren.

Das Land hier sieht sich als Opfer einer Isolationspolitik der USA. Dass die Beziehungen zu den USA nicht freundschaftlich sind, ist wohl jedem klar, aber das Land bekommt große Lebensmittellieferungen von den Amerikanern, was man ständig sehen kann – voll beladene Laster mit prallen Säcken mit der großen Aufschrift USA. Die sonstige Isolation des Landes ist ein Grundpfeiler des Systems und der Staatsreligion – der Juche-Ideologie, die vom Genialen und Geliebten Führer konzipiert und erarbeitet wurde und bis heute ihre Gültigkeit hat. Es ist die Autarkie – Selbstversorgung und Unabhängigkeit in jeder Hinsicht und von allen. […]

Picknick am Nationalfeiertag

Heute ist der Nationalfeiertag der Nordkoreaner. Am 27. 7. 1953 wurde das Waffenstillstandsabkommen mit den Amerikanern unterschrieben. Ich ging in die Stadtmitte zum Taedong-Fluss spazieren. Entlang dem Fluss ist eine Art Promenade angelegt. Mittendrin die Juche-Säule mit den Denkmälern. Die Säule wurde gebaut zu Ehren des geliebten Präsidenten, zu seinem 70. Geburtstag. Sie soll aus 25.550 Quadern bestehen (70 Jahre x 365 Tage – ohne Schalttage). Es ist eine ganz einfache 170 m hohe Säule mit einer aus rotem Glas stilisierten, in der Nacht leuchtenden Flamme. Sie soll das Licht, der die Welt erleuchtenden Juche-Idee darstellen.

Beidseits der Spazierpromenade saßen auf dem Rasen Gruppen von 10 bis 20 Personen versammelt um eine Bulgogifeuerstelle und einer reich gedeckten Tafel. Manche waren ganz schön angeheitert, viele singend oder auf verschiedenen Instrumenten wie Gitarre, Ziehharmonika spielend, andere tanzend, vor allem ältere Frauen in traditionellen langen Kleidern. Es war wie eine Offenbarung – ein lockeres Korea.

Gerade in diesem Moment fing es langsam an zu regnen. Die Leute ließen sich nicht aus der Ruhe bringen. Sie spannten Regenschirme auf, holten Plastikplannen raus oder stellten sich unter die hohen Bäume. Manche riefen mir zu, ich sollte mich unter ihren Schirm setzen, andere, die weitertanzten, forderten mich zum Tanz auf. Eine ungewohnte Nähe und Offenheit. […]

Das Aus für Cap Anamur

Seit einigen Tagen steht es fest, Cap Anamur verlässt das Land. Die Entscheidung ist gefallen nach den gescheiterten Verhandlungen mit der nordkoreanische Regierung über den neuen Vertrag. Unsere Forderung war, für das uns vorgeschriebene (sprich: aufgezwungene) Personal nichts mehr zu bezahlen. Überall in der Welt fahren wir unsere Autos selbst und brauchen nur einen Dolmetscher und keinen zusätzlichen Aufpasser. Obwohl sehr berechtigt, ist die Forderung in den Verhandlungen von uns aufgegeben worden. Die Nordkoreaner sind standhaft geblieben und in keinem Punkt bereit gewesen, nachzugeben. Die einzige logische Konsequenz konnte sein, die Arbeit abzubrechen.

Ein weiterer wichtiger Punkt war, dass die Krankenhäuser und die nordkoreanische Seite unsere Hilfe wie selbstverständlich betrachteten. Unsere Rolle als Helfer wurde in die der Versorger umgewandelt. Es war damit verbunden, dass wir plötzlich und zunehmend für die Mängel verantwortlich gemacht worden sind. Wenn etwas fehlte gab es einen Schuldigen – Cap Anamur.

Bei einer der letzten Krankenhausvisiten gelangte man auch zu den von Cap Anamur gelieferten Boilern. Die Antwort auf die Frage nach der Funktionstüchtigkeit konnte nur eine sein: „Alles in bester Ordnung.“ Sie seien sehr froh, dass sie so was haben. Der zweite Blick ergab, dass das Gerät gar nicht an Wasser und Strom angeschlossen ist und war. Die Ärzte, um uns ja nicht zu enttäuschen, erklärten, dass sie Wasser von oben reinkippen würden. Was jedoch gar nicht möglich ist. […]

An der chinesischen Grenze

Die zwei am weitesten abgelegenen Städte unserer Reise sind Hoeryong und Musan – ebenfalls an der chinesischen Grenze. Sie sind von Grund auf verschieden. Hoeryong ohne sichtbare Großindustrie. Für nordkoreanische Verhältnisse nicht sonderlich heruntergekommen, gut strukturiert, von Leichtindustrie und Handel lebend – Brücke über den Grenzfluss Tumen nach China.

Musan gibt dagegen, obwohl sehr ähnlich am Grenzfluss Tumen zu China gelegen, ein ganz anderes Bild ab. Seine Existenz ist begründet auf dem Bergbau von Eisenerz. Die Halden hier haben die Höhe der umliegenden Berge – mehrere hundert Meter. Die ganze Stadt ist ziemlich heruntergekommen. Weit und breit nichts, aber wirklich nichts von Menschenhand Geschaffenes, was als schön zu bezeichnen wäre. Den Eindruck könnte man erschütternd nennen. Es ist wie ganz Nordkorea, nur auf die Spitze getrieben.

Pflanzen haben nur einen Nutzcharakter. Bäume – eigentlich nur Stiele – werden in die Erde gebracht, weil die Pflanzaktion vom großen Beschäftigungs- und Planerfüllungsnutzen ist. Alles ist mal mehr, mal weniger grau. Die Häuser und Gebäuden entweder barackenartig oder im „Architekturstil“ der 50er- oder 60er-Jahre. 30 bis 50 Prozent der Fenster in den Wohnhäusern sind glasscheibenlos und mit Folie versehen, was hier besonders wichtig ist, aufgrund der tiefen Wintertemperaturen – unter 30 Grad minus sind keine Seltenheit. Auf den engen Balkons liegt gestapelt Holz oder Reisig und nur selten selbst gemachte Kohlestaubbrickets. Dazwischen ist noch Platz für fassgroße tönerne Gefäße für Kim Chi (eine Art vom koreanischen Sauerkraut), diverse andere Vorräte und die genehmigten Hühner.

Die meisten Balkons des Parterres, viele der ersten Etage und manchmal auch der zweiten sind vergittert, und zwar ueberall hier in der Provinz als auch in der Hauptstadt. Es ist sicher ein Schutz vor der Aggression der amerikanisch-imperialistischen Provokateure. Kriminalität gibt es hier nämlich nach offiziellen Angaben keine.

Der Weg in den Norden führt entlang der Küste am Japanischen Meer. Einen Zwischenstopp machen wir in einem Strandhotel der Hafenstadt Hamhung. Vom Balkon sehen wir einen breiten Sandstrand. Dies ist eine der wenigen Stellen der nordkoreanischen Küste mit einem freien Zugang zum Strand. Denn entlang der gesamten Küste verläuft ein durchgepflügter und eingeebneter Streifen sowie ein Elektrozaun. Doch ob da auch Strom fließt?