: Der Traum ist aus
Wie aktuell sind die Kreuzberger Utopien der Siebziger- und Achtzigerjahre? In der Ausstellung „Geschichte wird gemacht“ im Kreuzbergmuseum ist die Antwort eindeutig: Gar nicht. Ganz folgerichtig steht deshalb Rio Reiser im Mittelpunkt der Schau
von UWE RADA
Jeder hat so seine Träume. Der kleine Halil zum Beispiel möchte, dass in seiner Straße weniger Autos fahren, keine „Drogenmänner“ rumstehen und die Jugendlichen „nicht so Ausdrücke sagen“. Ein anderer träumte einmal diesen Traum: „Wir brauchen keine Hausbesitzer, denn die Häuser gehören uns. Wir brauchen keine Fabrikbesitzer, die Fabriken gehören uns.“
Zwischen dem Traum des 12-jährigen Halil und dem des damals 22 Jahre alten Rio Reiser liegen fast 30 Jahre. Drei Jahrzehnte, in denen sich nicht nur die Kreuzberger Träume veränderten, sondern auch der Stadtteil selbst. Wo einmal Geschichte gemacht wurde, gibt es nicht einmal mehr Fabriken, die man enteignen könnte. Und von den Ich-AGs, die an ihrer Stelle entstanden sind, hatte man in den 70er-Jahren, als Reiser mit Ton Steine Scherben zur Kultband der rebellierenden Jugend wurde, noch nicht einmal zu träumen gewagt.
Was ist von diesem Kreuzberg des Widerstands und der Utopien geblieben? Das haben sich fast ein Jahr lang 60 Leute gefragt, in ihren Archiven und Kellern gestöbert und alte Platten wiederhervorgekramt, unter ihnen auch Gert Möbius, der Bruder von Rio Reiser, der zusammen mit dem Rio-Reiser-Archiv die Geschichte der Scherben dokumentiert hat.
Doch eigentlich hätte man das, was im Kreuzbergmuseum ausgestellt wird, besser „Geschichte wurde gemacht“ genannt. So bleibt die Aufarbeitung der Sanierungsgeschichte in der Erzählung ihrer Mythen stecken, ohne dass man den Versuch gemacht hätte, einmal mit dem Anteil der linken Szene an der Entwicklung Kreuzbergs zum „sozialen Brennpunkt“ zu provozieren. Hatte Rio Reiser noch gesungen „Der Traum ist aus, aber ich werde alles geben, dass er Wirklichkeit wird“, haben andere am Ende des Traums auch dessen Ort verlassen. Zurück blieben Jugendliche wie Halil, die in der Schule nicht mit den Kindern der Revolutionäre lernen, sondern unter ihresgleichen.
Zwar haben die Ausstellungsmacher versucht, das türkische Kreuzberg in die Geschichtserzählung von unten einzubeziehen. Das jedoch ist gescheitert. Einzig der Fotografengruppe des Projekts ist es gelungen, mit den Träumen Halils und seiner Altersgenossen ein milieuübergreifendes Mosaik von Alltagswahrnehmung, Hoffnungen und Enttäuschungen zu zeigen.
Ansonsten gilt: In Kreuzberg wurde zwar Geschichte gemacht, aber keine gemeinsame. Zwischen den Träumen von Halil und denen von Rio Reiser liegen nicht nur drei Jahrzehnte, sondern auch Welten.
Wo sich diese Geschichten einmal gekreuzt haben, wo sie wieder auseinander gegangen sind und warum, hätte deshalb ein spannendes Projekt sein können, das nicht nur einen Bogen zur Gegenwart geschlagen hätte, sondern der Ausstellung auch jene Tiefenschärfe verliehen hätte, die mit einigen Momentaufnahmen nicht zu haben ist. Einzig die fotografisch festgehaltene Sanierung der Sorauer Straße 12, in der nicht die Grundsätze der behutsamen Stadterneuerung im Vordergrund stehen, sondern die Betroffenen in ihren Wohnzimmern, mag diesem Anspruch noch gerecht werden.
Dies ist umso ärgerlicher, als die Geschichte des „revolutionären Mai“, dem ein ganzer Ausstellungsbereich gewidmet ist, hier wertvolle Anhaltspunkte hätte liefern können. Schließlich treffen sich am 1. Mai seit Jahren deutsche und türkische Jugendliche unter den Parolen ihrer Väter und haben Spaß. Doch mehr als ein türkischer Mai-Aufruf wird zur Archäologie dieses multiethnischen Events nicht beigesteuert. Gerade hier wäre ein Schwenk auf die Akteure allemal anschaulicher gewesen als die hinlänglich bekannte Totale.
Aber vielleicht war das auch nicht gewollt, vielleicht ist „Geschichte wird gemacht“ nur die Erinnerungsarbeit vergangener Protestgenerationen, die sich in der Adalbertstraße ein eigenes Denkmal schaffen durften.
So wie in jenem mit schwarzem Tuch abgedunkelten, sakralen Raum, der als Altar für Rio Reiser den Mittelpunkt der Geschichtsreise bildet, obwohl Reiser bereits Mitte der Siebziger ins schleswig-holsteinische Fresenhagen gezogen war. In diesem Raum lässt sich das Kreuzberg der damaligen Träume und ihres Scheiterns sinnlicher erfahren als an den Nachbauten der Kreuzberger Straßenzüge mit den Fassaden der Siebzigerjahre: „Gibt es ein Land auf der Erde“, singt Rio Reiser, „wo der Traum Wirklichkeit ist?“
Die Ausstellung ist bis zum 4. Mai mittwochs bis sonntags von 12 bis 18 Uhr zu sehen in der Adalbertstraße 95a. Infos unter www.kreuzbergmuseum.de