Unbehagen mit dem Wir

Jana Hensel las aus „Zonenkinder“ – und in Dresden prallten die Wahrnehmungen der Wendezeit aufeinander

Glamourös schreitet Jana Hensel durch den Mittelgang des Saals. Sie trägt ein dunkelgrünes Kostüm und weiße Stiefel. Verfolgt von 600 Augenpaaren nimmt sie in der ersten Reihe Platz. Das Flüstern der Zuhörer verstummt allmählich. Doch noch immer drängen Leute in den Raum, obwohl weit und breit kein freier Stuhl in Sicht ist. So wird es noch einige Minuten dauern, bis die 26-jährige Autorin zu lesen beginnt.

Bereits Wochen vor der Veranstaltung im Haus des Buches waren keine Eintrittskarten mehr zu bekommen. Während „Zonenkinder“ im Westen als ein Phänomen betrachtet wird, mit dem man nicht viel zu tun hat, sorgt das Buch im Osten für Aufregung. Das vor dem Hintergrund, dass junge Literatur aus Ostdeutschland, die sich der Wendethematik widmet, nichts grundsätzlich Neues ist: Autoren wie Ingo Schulze, Thomas Brussig, Falko Hennig, Antje Strubel oder Ines Langelüddecke haben Selbstbeschreibungstexte verfasst, die ihre biografischen Brüche von 1989/90 reflektieren. Jana Hensel dagegen versucht, eine ganze Generation zu repräsentieren: die zwischen 1975 und 1978 Geborenen. Aber kommen die auch zu ihrer Lesung?

Der Blick in das Auditorium zeigte viel, sehr viel ergrautes Haar. Hier saßen nicht diejenigen, die im Herbst 89 noch mit der Pubertät zu kämpfen hatten, sondern deren Großeltern. Ein paar Zonenkinder waren aber auch da: meistens junge Frauen in Begleitung ihrer Mütter, von denen sich einige später noch zu Wort melden sollten.

In der Laudatio durch den Veranstalter wurde der Interpretationsrahmen vorgegeben. Von überfälliger Geschichtsaufarbeitung war die Rede, die das Buch leisten und auf die man schon lange warten würde. Doch gerade diesen Aspekt auf „Zonenkinder“ zu beziehen, dürfte problematisch sein, wie Jochen Schmidt kürzlich herausgearbeitet hat (taz vom 11./12. Januar). Schon näher lag der Gedanke, dass es sich bei „Zonenkinder“ um ein Antwortbuch auf Florian Illies’ „Generation Golf“ handele. Jana Hensel, die diesen Vergleich offensichtlich nicht mehr hören konnte, betonte jedoch, dass sie mit „Zonenkinder“ vor allem ein Buch über die Neunzigerjahre geschrieben habe. Der Begriff der Zone stehe bei ihr nicht für die DDR, sondern meint die unmittelbare Zeit nach der Wende, in der der Osten einem politischen und kulturellen Vakuum glich.

Die Abschnitte über die Neunzigerjahre, die den Generationskonflikt zwischen Eltern und ihren zwittrigen Ostwestkindern schildern, gehören zu den Stärken des Buches. Beim Vortragen dieser Passagen wurde es absolut still im Saal. Man konnte die Spannung spüren, die durch Jana Hensels einfühlsame Stimme aufgebaut wurde. Eine Rebellion gegen die Eltern fand im Osten nicht statt: „Sie lagen ja schon am Boden (…), und wir, die wir mit viel Glück und dank unserer späten Geburt um ein DDR-Schicksal herumgekommen waren, wollten die am Boden Liegenden nicht noch mit Füßen treten.“

Interessant wurde die im Anschluss an die Lesung geführte Debatte. Eine Frau meinte, dass die Beschreibungen Hensels überhaupt nicht zuträfen. Osteltern seien keine Versager, die mit der Lebenswirklichkeit ihrer Kinder nichts mehr anfangen könnten. Zustimmung und Applaus im Saal. Jana Hensel wurde das erste Mal unsicher an diesem Abend. „Natürlich hat jeder andere Erfahrungen gemacht“, sagte sie. Jetzt kam Unruhe auf. Einige der Gäste wurden laut und forderten, dass die Autorin nicht in der Wir-Form sprechen solle, wenn sie „ich“ meine. Auf die letzte Frage, wie denn ihre Eltern das Buch gelesen hätten, verweigerte Jana Hensel die Antwort.

ROBERT HODONYI