: Unkartografiertes Land
Melville wollte keine Allegorie, und Kilian Hattstein versucht sich bei seiner Neuinszenierung an behutsamen Zeichen: Die Jagdgeschichte „Moby Dick“ wird im Neuen Cimena inszeniert
von NIKOLA DURIC
Moby Dick, so erklärte Friedrich Dürrenmatt einmal, sei der einzig dicke Roman, den er je zu Ende gelesen habe. Es ist ein monströses Buch, bestehend aus verschiedenen literarischen Schichten. Herman Melvilles Werk ist eine romantische Abenteuergeschichte, eine elisabethanische Tragödie, ein wissenschaftlicher Amoklauf, ein alttestamentarisches Gleichnis und zugleich die Ankündigung eines modernen Erzählstils. In Europa wurde das 1851 veröffentlichte Buch zum ersten Mal nach dem Ersten Weltkrieg übersetzt. Vor zwei Jahren erschien die inzwischen siebte deutsche Fassung. Sie gilt unter Kennern als vollständigste und dem Urtext am ehesten entsprechende Version.
Vielleicht ist diese Neuauflage ein Grund für die ansteigende Zahl an außerliterarischen Umsetzungen des „Weißer-Wal-Stoffs“: Im Frühsommer vorigen Jahres entwickelte die Hamburgerin Doro Wiese ein szenisches Hörspiel nach Moby Dick. Vor zwei Monaten startete der Bayerische Rundfunk einen zehnstündigen Radioextrakt. Jetzt hat das Theaterstück Moby Dick in der Regie von Kilian Hattstein im Neuen Cinema Premiere. Es wird von zwei Schauspielern und einem Musiker dargeboten. Die erneut aufkeimende Renaissance des Walfänger-Buchs hat jedoch einen weiteren und aktuelleren Grund. Zwar wehrte sich Melville gegen eine bestimmte Art der Interpretation: „Ich fürchte, dass mein Buch als monströse Fabel betrachtet werden könnte oder, noch schlimmer und abscheulicher, als eine scheußliche und unerträgliche Allegorie.“ Aber genau so zeigt sich die derzeitige Lesart des Klassikers, und Melville ahnte, dass das Buch eine „allegorische Konstruktion zulassen würde“.
Genau dies ist nun mit George W. Bushs Versuch, die Welt in seine Vorstellung von gut und böse zu packen, passiert. Neben einem musikalischen Schwerpunkt des Moby Dick-Stücks von Hattstein haben die Bilder und Ereignisse aus Melvilles Buch Zeichencharakter. So erklärt Imanuel Schipper, Programmleiter des Neuen Cinema: „Das Walfängerschiff „Pequod“ steht für das amerikanische Volk. Kaptän Ahab ist Bush jun., dem Böses getan wurde, als die zwei Türme dran glauben mussten.“ Nun muss er sich rächen und schart die Mannschaft mit einer Belohnung für die Erfassung des Bösen, mit Rhetorik und Bibelsprüchen, hinter sich. Ahab und Bush stimmen ihre Mannschaft beziehungsweise ihr Wahlvolk auf eine Jagd nach etwas ein, wovon niemand genau weiß, wo und wie es existiert.
In der klassischen Melville-Rezeption steht der weiße Wal auch für unkartografiertes Land, für die leer belassenen Stellen der Meereskarten. Für Bush jun. ist das Unbekannte das Fremde und Bedrohliche, wahlweise Ussama bin Laden oder Saddam Hussein. Bezeichnenderweise ist das Motiv für den klassichen Walfang dasselbe wie die wahren Interessen des Texaners: Öl. Nach erfolgreicher Jagd stand den Matrosen die ungeheuere Arbeit nämlich bevor, den toten Wal in Öl zu verwandeln, das heißt, ihn abzuspecken und anschließend den klein geschnittenen Speck zu kochen und daraus das hochwertige Öl zu gewinnen, das das Räderwerk des Industriezeitalters schmierte.
Melvilles Meeres-Buch ist auch ein postmoderner Roman avant la lettre. Raymond Weaver erklärte Melvilles Schreibstil einmal folgendermaßen: „Er rief Burton, Shakespeare, Byron, Milton und Chesterfield ebenso herbei wie Prometheus und Aschenbrödel, Mohammed und Kleopatra, die Medici und die Muselmanen, um sie sorglos über seine Seiten zu streuen.“ Dieser kombinatorische Stil ist inzwischen zum guten Ton auf den Nebenbühnen der Stadttheater geworden. Außerdem soll es in Hattsteins Inszenierung auch komödiantisch zugehen. Alte Lesarten von Moby Dick gingen davon aus, daß der Wal das Böse und Ahab der Gute sei. Was geschieht aber, wenn das radikale Böse des 20. Jahrhunderts gerade das Ergebnis der Versuche war, das radikal Gute zu verwirklichen?
Premiere Donnerstag, 6. Februar, 20 Uhr, Neues Cinema