: Wer fliegen will, ist hier gerade richtig
Heute beginnen die 53. Internationalen Filmfestspiele Berlin. Den Wettbewerb beherrschen schwergewichtige Themen: tödliche Krankheiten, die Todesstrafe, Flüchtlings- und Beziehungsdramen. Viele Filme kommen aus den USA und waren dort schon zu sehen. Grund zur Freude gibt es trotzdem
von CRISTINA NORD
Gibt es Gründe, sich unbändig auf die Berlinale zu freuen? Zum Beispiel den, dass sie einen Film wie „Intimate Confessions Of A Chinese Courtesan“ aus dem Archiv hervorholt. Der Film von Chu Yuan, eine Variation des „Eine Frau sieht rot“-Motivs aus dem Jahre 1972, gehört zu einer Reihe, die das Forum dem Produzentenduo Run Run und Runme Shaw widmet. Gezeigt werden fünf Filme aus dem Hongkong der 50er-, 60er- und 70er-Jahre, zum Teil in sorgsam restaurierten Fassungen. Im Fall von „Intimate Confessions Of A Chinese Courtesan“ bedeutet das Staunen über die Artistik der Körper, über das Fließen der Gewänder, das Wirbeln der Stoffbahnen, die Choreografie des Kampfes.
Kung Fu besteht aus Tricks, aus Hebelwirkungen, aus mathematischer Überlegung: Wenn Kraft A mit der Geschwindigkeit B auf Punkt C trifft, welchen Effekt hat sie? Deswegen gewinnt nicht der Kämpfer mit den meisten Muskeln, sondern der Listige. Oder die Listige. Denn sie weiß die Vorstöße des Gegners am besten für sich einzusetzen. Verlässlich umrahmt wird dies von der Logik der Exploitation. Eine Menge Blut fließt, aber es ist von einem so hellen Rot, dass seine Künstlichkeit nie in Frage steht. In seinem Entstehungsjahr, 1972, war Chu Yuans Film ein Skandal, gab doch die eine Protagonistin der anderen einen Kuss.
Es sind solche Augenblicke, in denen sich einlöst, was ein Festival als Versprechen in sich trägt: ausgelassenes Kinoglück. Wo die Freude am Krawumm der Fäuste Platz hat, darf es an dramaturgischem Feinsinn oder vielschichtigen Figuren fehlen. Wollte man das als regressive Schaulust abtun, man läge nicht ganz richtig. Denn das Subtile des Kung-Fu-Films speist sich daraus, dass er die Gesetze der Schwerkraft suspendiert. Wer fliegen will, ist hier gerade richtig.
Wie schwierig es allerdings ist, fliegen zu lernen, zeigt Liu Chia-liangs „The 36th Chamber Of Shaolin“ (1978). Aus der Ferne erinnert dieser Film an „Jackass“, die Show, die sich zurzeit auf MTV an den Selbstverletzungen fröhlicher junger Männer weidet. Beispiele: Der Protagonist, ein junger, in den Shaolin-Tempel geflohener Mann, stärkt seine Armmuskeln, indem er Wassereimer trägt. Die Arme streckt er dabei aus. Sobald er sie aus Erschöpfung sinken lässt, schneiden an seinen Oberarmen befestigte Messer in seine Rippen.
Pupille und Licht
Später trainiert er das Reaktionsvermögen seiner Augen, indem er Lichtreflexen mit den Pupillen folgt. Sein Kopf steckt zwischen den glühenden Spitzen riesenhafter Räucherstäbchen. Sobald der Mann mehr als die Augäpfel bewegt, versengt er sich die Wangen. Im letzten Drittel des Films lässt sich studieren, wozu die unter Schmerzen gewonnenen Fähigkeiten gut sind.
Der Wettbewerb hingegen, das versicherte der Leiter der Berlinale, Dieter Kosslick, schon während der ersten Pressekonferenz, wird ernst. Zwar setzt der chinesische Regisseur Zhang Yimou mit „Hero“ die Erkundungen auf dem Terrain der Kampfkunst fort. Wolfgang Becker erforscht das komödiantische Potenzial, das entsteht, wenn eine DDR-Bürgerin nach dem Fall der Mauer aus dem Koma erwacht, von ihren Angehörigen aber über die aktuellen politischen Entwicklungen getäuscht wird. Spike Jonze legt mit „Adaptation“ eine Reflexion auf das Filmbusiness vor, die ihm – unter anderem wegen des Drehbuchs von Charlie Kaufman – so aberwitzig geraten ist, dass sie „Being John Malkovich“ in nichts nachsteht. Aus Holland kommt das Musical „Ja Zuster, Nee Zuster“, in dem eine gute Krankenschwester gegen einen bösen Hausbesitzer antritt. Und Pascal Bonitzers „Petites Coupures“ befasst sich mit den amourösen Verwicklungen eines Mannes, der das Erwachsenwerden scheut.
Doch in den anderen Filmen – insgesamt sind es 22 – gibt es nicht viel zum Lachen. Das Themenspektrum umfasst tödliche Krankheiten, Todesstrafe, Organhandel, Fehlgeburt, Flüchtlings- und Beziehungsdramen. Der 11. September fehlt nicht: Spike Lee zum Beispiel hat ihn als Subtext seinem in New York angesiedelten Film „25th Hour“ unterlegt. Manchmal unaufdringlich, wenn zum Beispiel in einer Bar kurz Fotos ums Leben gekommener Feuerwehrleute zu sehen sind. Manchmal wird Lee deutlicher. Etwa dann, wenn zwei Männer, Jugendfreunde des Protagonisten, an einem Fenster stehen und darüber reden, dass die Strafe verdient sei, die ihr wegen Drogenhandels verurteilter Freund antreten wird. Während sie das sagen, fällt ihr Blick durch das Fenster auf eine Baustelle: Ground Zero. Wie Lee dabei die Begriffe Strafe und Buße vom individuellen Fall seiner Hauptfigur ablöst und auf die Stadt New York überträgt, ist befremdlich.
Es liegt hierin einer der Gründe, die die Vorfreude schmälern. Kosslick und sein Team haben das Festival um einen Tag verkürzt, damit die Spannung, statt in der Mitte der zweiten Woche zu verebben, bis zum Ende anhält. Die Preisverleihung findet nicht mehr am Sonntag, sondern bereits am Samstagabend statt. Das hat den Nebeneffekt, dass sich die 22 Wettbewerbsfilme in neun Tagen zusammendrängen. Nun wäre das allein kein Problem, fehlte es der Auswahl nicht ein wenig an Überraschung und Esprit. Sicher, es gibt einen neuen Film von Claude Chabrol, „Adaptation“ macht viel Freude, und auf Stephen Daldrys „The Hours“ kann man gespannt sein, treten darin doch drei herausragende Schauspielerinnen auf: Meryl Streep, Julianne Moore und Nicole Kidman (Letztere in der Rolle der Virginia Woolf: Sie legte sich eine Nasenprothese an, um der Schriftstellerin zu ähneln).
Insgesamt aber sind es – die Klage ist nicht neu – zu viele Filme, die in den USA schon gezeigt wurden – inklusive des Eröffnungs- und des Abschlussfilms, des Musicals „Chicago“ und Scorseses „Gangs Of New York“. So gelungen diese Filme im Einzelfall sein mögen, so scheitern sie, wenn es darum geht, der Berlinale das nötige Maß Exklusivität zu verleihen. Kosslick spricht von einer „gebrochenen Programmierung“ im Wettbewerb: „Auf der einen Seite gibt es intelligentes, starbewehrtes Mainstreamkino, auf der anderen Seite kleine, harte Filme, die Ihnen etwas zeigen von der Welt, in der wir leben.“ Was dabei auf der Strecke zu bleiben droht, ist die cineastische Perspektive. Sie wird in die Nebenreihen, ins Forum und ins Panorama verlagert.
Gibt es, von der neuen Ernsthaftigkeit abgesehen, weitere Tendenzen? Die Zeiten, in denen man die digitale Revolution vorhersagte, sind vorbei. Digitalisierung ist nicht mehr das große Versprechen, sondern Alltag. Man dreht digital, so das Sujet oder das Budget dies verlangen, nicht, weil man die neue Technik feiern wollte. Das Forum trägt dieser Entwicklung Rechnung, insofern das gesonderte Videoprogramm aufgelöst und ins normale Programm integriert wurde. Der Talent-Campus, die große Neuerung der diesjährigen Berlinale, will den Nachwuchs fördern. 500 junge Filmemacher wurden aus 2.000 Bewerbern ausgewählt. Sie haben eine Woche lang Gelegenheit, sich mit Regisseuren, Autoren, Produzenten, Cuttern und Marketingexperten auszutauschen. Wie diese Veranstaltung ausfallen wird, bleibt abzuwarten: Ist Platz für Ideen jenseits der bekannten Bahnen, der Gesetze der Stoffentwicklung und der Drehbuchschule?
Spirale und Zentrum
Eine Tendenz lässt sich ausmachen: die Selbstreflexivität. Viele Filme kreisen um sich, um die Unterhaltungsindustrie, ums Showbusiness. Spike Jonzes „Adaptation“ zum Beispiel wirbelt in wilden Spiralen um ein leeres Zentrum, angetrieben von der Misere eines Drehbuchautors, der etwas anderes will, als die Diktatur der Scriptseminare verlangt. Es wird kein Zufall sein, dass dieser Drehbuchautor im Film den Namen des echten Drehbuchautors, Charlie Kaufman, trägt; es ist dies nicht die einzige Doppelung, die sich Jonzes Film erlaubt. Rob Marshalls „Chicago“ verschränkt die Topoi des Frauengefängnisfilms mit denen des Musicals. Daraus entsteht eine Mischung, die das Showbusiness feiert und zugleich mit Spott überzieht. Ähnliches gilt für George Clooneys Regiedebüt „Confessions Of A Dangerous Mind“: Dessen Hauptfigur, ein TV-Show-Produzent, bringt die Öffentlichkeit des Fernsehens mit der Untergrundexistenz des Agenten zusammen und erprobt dabei Wege, wie er mit und ohne Pistole auf Menschen schießt. Auch hier stand eine reale Figur im Hintergrund: Chuck Barris. Er behauptet in seiner Autobiografie, im Auftrag der CIA drei Dutzend Menschen ermordet zu haben.
Schließlich ist da der Abschlussfilm, Scorseses „Gangs Of New York“: Von den ersten Kampfszenen an ist ihm ein Diskurs über das Spektakel und den Schauwert der Gewalt eingezogen. Je mehr Gewalt in Szene gesetzt wird, desto intensiver reflektieren der Film und die Figuren, warum und in welchen Situation Gewalt sichtbar wird – etwa als Spiegelstrafe, als vor aller Augen verübter Racheakt oder bei einer öffentlichen Hinrichtung. „Gangs Of New York“ ist ein wirklich guter Grund, sich auf die Berlinale zu freuen.