piwik no script img

Die Kamera starrt

Reduziert und verfeinert, erhaben und kontemplativ: Mit einer großen Werkschau ehrt die Berlinale den japanischen Regisseur Yasujiro Ozu, der in diesem Jahr hundert Jahre alt geworden wäre

von ANDREAS BUSCHE

Nicht jeder kann sich seine Freunde aussuchen. Yasujiro Ozu hat heute viele „Freunde“, und es sind einige suspekte darunter – aber auf jeden Wim Wenders kommt in Ozus Anhängerschaft immerhin ein Paul Schrader. Sein Glück ist (vielleicht) gewesen, einigen seiner treuesten Freunde nie begegnet zu sein. Yasujiro Ozu starb, bevor man außerhalb von Japan von ihm Notiz genommen hatte, und es dauerte nochmals gut zehn Jahre, bis in die Siebziger, bis Ozu in der westlichen Filmtheorie kanonisch wurde. Heute gehört er zu den wohl bestdokumentierten Regisseuren in der Geschichte des Kinos, was nichts daran ändert, dass seine Filme dem öffentlichen Zugriff größtenteils entzogen sind – sowohl auf Video als auch im Kino.

Aus Anlass seines hundertsten Geburtstags bringt seine alte Produktionsfirma Shochiku, bei denen Ozu Anfang der Zwanziger als Kameramann begann und in deren Diensten er bis zu seinem Lebensende stand, in diesem Jahr nun ein Paket mit 35 Filmen in restaurierter Fassung in die Kinos. Auch ein Vesuch, Ozu seiner fast schon musealen Rezeption zu entreißen. So lautet der Titel eines der Panels im Rahmen der Berlinale-Retrospektive passenderweise „His Work, his style, his relevance today“. Der Gedanke liegt nahe, Yasujiro Ozus Werk, abseits der Kanonisierung als historisches Material, einer erneuten Prüfung zu unterziehen und es wieder einmal auf seine Beständigkeit hin abzuklopfen.

Ozu galt nie als moderner Regisseur, nicht einmal als er sich in den Fünfzigerjahren mit seinen „Shomin Geki“-Filmen – häuslichen, im Nukleus der japanischen Mittelklasse-Familie eingeschlossenen Konfliktfilmen – seinen Ruf als Chronist der Urbanisierung vom Nachkriegs-Japan gefestigt hatte. Als zu japanisch ist er damals von seinem Verleih eingestuft und in Folge dessen vom Vertrieb ins Ausland ausgeschlossen worden. Erst vereinzelte Erfolge auf internationalen Filmfestivals ließen erahnen, wie universal die Themen seiner zutiefst japanischen Konfliktsituationen eigentlich waren.

Im Gegensatz zu Akira Kurosawas muskulösem Bewegungskino und Kenzi Mizoguchis auch persönlich bedingtem, obsessivem Inszenierungsstil, sind die Filme Ozus stets privatistisch mit ihren gesellschaftlichen Konflikten verfahren (und während Kurosawas Themen schnell von westlichen Regisseuren von Leone bis Sturges aufgegriffen wurden, musste Ozu die Remakes seiner Filme selbst drehen – wie zweimal geschehen mit „Ich wurde geboren, aber …“ von 1932, 1959 als „Ohayô“ wiederverfilmt, und „Der Wanderschauspieler“ von 1934, als „Abschied in der Dämmerung“ später einer von Ozus schönsten Filmen). Das Kino Yasujiro Ozus war ein Kino der Raffination, wie Schrader es in seinem Buch „Transcendental Style in Fim“, einem der Standardwerke der Ozu-Forschung, nannte. Gefangen in einem permanenten Prozess der Verfeinerung und Reduktion, auf der niemals enden wollenden Suche nach der perfekten Form. Schrader war es, der den Begriff der „Transzendenz“ erstmals auf das minimalistische Kino von Ozu und Bresson anwandte.

Es muss nicht überraschen, dass sich auch der christlich-fundamentalistisch erzogene Schrader von Ozus Stil angezogen fühlte: Erhaben-kontemplativ, ohne in religiöse Starre zu verfallen, kultivierte er eine Ästhetik, die, wie Schrader schrieb, zwischen dem Heiligen und dem Säkularen keinen Unterschied machte. Seine Filme strebten eine neue Existenzform an, in der sie allein aus sich selbst heraus bestehen konnten. Wichtiger als der einzelne Film wurde bei Ozu das gesamte Werk: Sein „transzendentales“ Erkenntnisstreben konzentrierte sich auf die Perfektion eines immer kleiner werdenden Repertoirs von Techniken und Methoden, die im klassischen Zen-Sinne schließlich mit einem letzten Werk erreicht sein sollte. Am Ende seines Lebens hätte für Ozu ein einziger, sein letzter Film stehen sollen, als Gesamtwerk einer 35-jährigen Karriere. Ozu ist an diesem gewaltigen Vorhaben letztlich gescheitert, trotzdem sind seine Filme heute in ihrer stilistischen Geschlossenheit einmalig: reduktionistisch-spirituell nicht durch ihre Einfachheit, sondern die Reinheit ihrer Form.

In seinem Spätwerk wird dies besonders deutlich. Ozu hat seinen späten Filmen die psychologischen Muster des westlichen Kinos, das ihn in den frühen Jahren noch stärker beeinflusst hatte, gründlich ausgetrieben. Seine Schauspieler ließ er, wie er Donald Richie in dessen Buch „Yasujiro Ozu: The Syntax of his Films“ erzählte, Szenen bis zu dreißigmal proben, bis jeder emotionale Ausdruck aus ihrem Spiel verschwunden war. Am Ende seiner Karriere hatte Ozu auch fast jede artikulierte Filmtechnik aus seinem Repertoir verbannt. Die Montage war ihm als einzige narrative Instanz eines filmischen Ablaufs geblieben, und er benutzte sie nicht kontrapunktierend, sondern wie im frühen Stummfilm nur, um die zeitliche und räumliche Kontinuität von Ereignissen herzustellen.

Wie traditionell Ozu trotz seiner modernistischen Entschlackung arbeitete, ermisst sich in der Augenhöhe, auf der er sich mit der Welt befand. Ozus starrende, immobile Kamera befand sich immer auf einer Ebene mit den Teilnehmern einer japanischen Tee-Zeremonie, aus der der Japaner oder die Japanerin ihr ganzes Leben erfahren. Ozu nannte es eine „passive Haltung“, die in seinen Filmen zum Ausdruck kam. Wegen dieser Haltung ist er von Regisseuren der „Japanese New Wave“ in den Sechzigern oft kritisiert worden. Trotzdem war genau dieser devote Ton seiner Filme die Voraussetzung für Ozus filmischen Stil, der zu der Sublimation seiner Erzählform führte. Und hierin liegt auch genau das genuin Japanische seiner Filme: die Rücknahme des subjektiven künstlerischen Ausdrucks zugunsten der Stärkung einer ganzheitlichen Repräsentation.

Die Kunst Ozus war es, aus dieser filmischen Theorie heraus, dem Ritus seiner Filme, in denen das Individuum primär als Kompositionselement behandelt wird, einen so grundlegend humanistischen und berührenden Ton zu finden wie etwa in seinem wohl besten Film „Reise nach Tokio“ („Tokyo Story“). Ozu arbeitete sein Leben lang mit einem Stamm an Schauspielern, die er nicht ihrer schauspielerischen Qualitäten wegen verpflichtet hatte, sondern, wie er Richie erzählte, wegen dem, „was sie sind“. Auch hier funktioniert Ozus Werk wieder über Kontinuität. In seinen Filmen mit den unzähligen Variationen ähnlicher Geschichten, Konflikte, Einstellungen, Charaktere und Gesichter stellt sich so eine Einheit her, im japanischen Sinne etwas Familiäres. Sein „transzendentaler Stil“ verschaffte einen Einblick in die Alltagsstrukturen des japanischen Lebens zwischen Büro und Familie, wie es vor ihm noch kein Regisseur geschafft hatte. Yasujiro Ozus Karriere ist das Werk unendlicher Beharrlichkeit.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen