: Revolutionär von oben
Mustafa Kemal Atatürk begründete die moderne Türkei mit einem immensen Traditionsbruch. Klaus Kreisers Biografie porträtiert den autoritären Kulturrevolutionär, dessen Einfluss bis heute die Türkei prägt
VON STEFAN REINECKE
Biografien großer Männer standen lange unter Ideologieverdacht. Die Perspektive dieses Genres erschien als notwenig verkrümmt, weil es die Illusion beförderte, Geschichte würde von Einzelnen gemacht. Diese Geringschätzung der Biografie hat sich zu Recht überlebt.
Insofern ist überraschend, dass erst jetzt auf Deutsch eine Atatürk-Biografie erscheint. Denn der bis heute währende Einfluss, den Mustafa Kemal Atatürk auf die Entstehung der Türkei als säkulare Nation hatte, ist unbestreitbar. Ohne ihn wäre die Türkei auch 70 Jahre nach seinem Tod 1938 eine andere.
Der Turkologe Klaus Kreiser hat diese Lücke geschlossen und ein kundig recherchiertes, exaktes Atatürk-Porträt verfasst. Er zeichnet Mustafa Kemals Weg aus einem bildungsfernen Milieu ins Zentrum der Macht nach. Er wuchs abseits der Elite des Osmanischen Reichs in Thessaloniki auf und durfte, wegen guter Schulleistung, Offizier werden. Mustafa Kemal wurde ohne Vorbild groß – und war somit umso empfänglicher für den jungtürkischen Zeitgeist Ende des 19. Jahrhunderts, der gegen die zerfallende Herrschaft des Sultans rebellierte. Er war, so Kreiser, ein „Autodidakt“, der sich unermüdlich bildete, sich in Literatur, Kriegsstrategie und den Schriften August Comtes auskannte und weitgehend ungebunden durch Traditionen auf die Welt sah. Kurzum, jemand der zum Revolutionär taugte.
Es gab wohl zwei Erfahrungen, die ihn entscheidend prägten: das Soldatische und die Konfrontation mit dem Westen. Als Soldat des maroden Osmanischen Reichs kämpfte er 1911 auf verlorenem Posten in Libyen gegen Italien. Er wurde 1915 in Gallipoli zum Kriegshelden – und zum General befördert. Schon 1908 hatte er gewusst, dass es mit dem „hassenswerten Sultan“ nur bergab gehen konnte. Um die Figur Atatürk beurteilen zu können, muss man sich immer wieder die Gewaltexzesse dieser Zeit vor Augen führen – von den blutigen Unabhängigkeitskriegen gegen das Osmanische Reich über die Schlachten des Ersten Weltkriegs bis zu den ethnischen Säuberungen im griechisch-türkischen Krieg.
Auf kurzen, meist militärischen Zwecken dienenden Reisen durch Westeuropa lernte Mustafa Kemal die Moderne kennen. In Karlsbad, wo er 1918 zur Kur war, schaute er „äußerst feinen, schönen jungen Frauen“ beim Fourstep-Tanz zu und notierte in seinem Tagebuch: „Bei uns sind (sexuelle) Sittsamkeit und Keuschheit großen strengen Regelungen unterworfen. Ein Europäer kennt diese Regeln nicht. In der Frauenfrage müssen wir kühn vorgehen.“ Und: Wenn mir die „Macht zufällt, werde ich die Umwälzungen in unserem Gesellschaftsleben mit einem Coup umsetzen“. Denn: „Ich möchte nicht wie die einfachen Leute werden, sondern sie sollen werden wie ich.“ Diese Zeilen beinhalten die Grundzüge seines kulturrevolutionären Programms, und Atatürk selbst erscheint als Verkörperung der Nation, die werden soll, wie ihr Gründer. So nimmt diese Notiz auch schon den bis heute währenden Personenkult um Atatürk vorweg.
Mustafa Kemal war ein spöttischer Agnostiker. 1915 lobte er in einem Brief an eine Freundin, dass seine Soldaten leichter in den Tod gingen, weil sie glaubten, dass sie im Jenseits „die schönsten Frauen Gottes empfangen“. Allerdings sei doch merkwürdig, dass Mohammed den Männern diese Paradiesfrauen verspreche, während muslimische Frauen leer ausgehen. Das sei doch „unerträglich“. Zur geschichtsmächtigen Figur wurde Kemal Mustafa als das Osmanische Reich in den Nachwehen des Ersten Weltkriegs endgültig unterging. 1920 besetzten die Griechen die Westtürkei. Im Vertrag von Sèvres schrumpfte die Türkei auf einen Kernteil von Ostanatolien. Kemal Mustafa organisierte den militärischen Widerstand und besiegte, mit Unterstützung der Sowjetunion, die Griechen. So etablierte er 1922 die türkische Republik. Er räumte das Kalifat ab, führte ein westliches Rechtssystem ein und beseitigte den Islam als Staatsreligion. Er verbot den Schleier und setzte um, was ihm 1918 in Karlsbad in den Sinn gekommen war.
Klaus Kreiser stellt dar, wägt ab und scheut generelle Urteile. Die Nachtseite der türkischen Nationwerdung verschweigt er keineswegs. Klar wird, dass Kemal Mustafa stets den bis heute geleugneten Massenmord an den Armeniern 1915 beiseitezuwischen versuchte. In Atatürks – der Französischen Revolution entlehnten – Konzept des Nationalstaats waren ethnische Minderheiten wie die Kurden nicht vorgesehen. Die Unterdrückung ethnischer und religiöser Minderheiten ist bis heute der Makel der türkischen Republik.
Atatürks autokratische Herrschaft in den 30er-Jahren mit ihrem Personenkult und der Repression gegen alles Abweichende, drängt die Frage auf, ob dieses Regime nicht in eine Reihe mit den faschistischen Diktaturen in Italien und in Spanien gehört. Kreiser verneint – mit guten Gründen. In Ankara regierte kein charismatischer Tyrann, sondern ein schüchterner Oberlehrer. Die türkische Außenpolitik war friedlich, die Repression milder als in Italien. Und das Parlament war immerhin so intakt, dass es 1946 beim Übergang zur Demokratie brauchbar war.
Atatürk war der Archetyp des Revolutionärs von oben. So angenehm Kreisers Zurückhaltung bei Urteilen wirkt – ein paar Sätze zu Atatürks historischer Gesamtbilanz hätte man von einem so kundigen Autor schon gern gelesen.
Klaus Kreiser: „Atatürk. Eine Biographie“. Verlag C. H. Beck, München 2008, 334 Seiten, 24,90 €