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Archiv-Artikel

Ganz wie damals sein und singen

Silke Waltereit blickt im Schnürschuh-Theater zurück auf 100 Jahre deutschen Kabarett-Chansons

„Jedes Chanson ist ein verdichtetes Drama“, sagt Silke Waltereit. „Das, was ein Theaterstück in drei Stunden auf die Bühne bringt, ist mit einem Chanson in drei Minuten möglich.“ Die Chansonneuse hat mehr als dieHälfte ihres Lebens auf der Bühne verbracht. Jetzt ist die reife Dame auch im Bremer Schnürschuh-Theater zu sehen und zu hören. Mit dem Chansonprogramm „Menschlich-Allzumenschlich“ tourt sie durch die ganze Republik.

Wie sie zum Chanson gekommen ist? Irgendwann sei ein Angebot aus Frankfurt gekommen. Für einen Brecht-Themenabend: „Da habe ich zum ersten Mal Blut geleckt. Seitdem interessiert mich die ganze Bandbreite des Chansons.“ Dessen Vielseitigkeit mache auch den Reiz ihrer Arbeit aus: „Mir ist wichtig, alles zu zeigen“, betont die Interpretin. „Genauso witzig und frech, wie es damals war.“ Mal mondän, mal volkstümlich, mal politisch, mal lyrisch. Verkörpern möchte sie so ein ganzes Stück Kulturgeschichte. Gelegenheit findet sie dazu anlässlich des 100-jährigen Jubiläums des deutschen Kabarett-Chansons. Auch wenn das Ereignis streng genommen zwei Jahre zurückliegt: „Aber das ist mir doch egal, die paar Jahre hin oder her“, mokiert sich Waltereit. „Jetzt sind einfach hundert Jahre voll, und die müssen gefeiert werden!“

Alles begann am 18. Januar 1901, als der Schriftsteller Baron Ernst Wolzogen in Berlin mit dem „Über-Brettl“ das erste Kabarett in Deutschland aus der Taufe hob. Abgeguckt hatte man die Sache in Paris. Bohémiens prägten auch in Berlin das Erscheinungsbild. Mit satirischer Spottlust, blödelnd und zuweilen auch mit bitterem Ernst, in Kneipen und auf Theaterbühnen präsentierten Dichter und Maler, Schauspieler und Musiker ihrem Publikum die Welt als Tingeltangel. Das Kabarett geriet zum poesiegeladenen Experimentierfeld von Caféhaus-Literaten – und wurde politischer. Tucholsky, Brecht, Kästner und Otto Reutter – das sind die großen Namen der Kunstform. Nach dem 2. Weltkrieg knüpfte allenfalls Georg Kreisler noch an die satirisch-böse Tradition an. So sieht es auch Silke Waltereit „Eigentlich ist das Chanson nur bis zu den 60ern interessant. Dann folgten vermehrt Liedermacher.“ Nach 100 Jahren eine traurige Bilanz: Zwar gibt es Chanson-Liebhaber. Aber das Chanson in seiner Urform ist tot.

Warum nur? „Chansons sind zum Mitdenken, etwas für den Kopf“, analysiert Waltereit die Lage. Damals sei alles viel bewusster ausgelebt worden. Heute habe eben niemand mehr Zeit, nur noch Stress. „Die Leute wollen sich lieber entspannen und berieseln lassen.“ Das gehe dann mehr unter die Gürtellinie, klagt die Chansonneuse, die Komik sei zu platt und, ach!, ganz aufs schnelle Amüsement aus. Früher, ja, früher sei der Qualitätsanspruch anders gewesen. „Man musste nicht nur singen können“, weiß Silke Waltereit, „sondern auch tanzen und schauspielern“. Anja Damm

Menschlich-Allzumenschlich, 14. Februar, Schnürschuh, 20 Uhr