: „Die merkwürdigsten Erfahrungen“
Wer darf den Thomas Mann-Preis vergeben: Lübeck oder München? Sollte es noch mehr Mann-Preise geben? Und darf sich der Lübecker Preisträger, Daniel Kehlmann, kritisch über den privaten Thomas Mann äußern? Ein Gespräch mit dem Schriftsteller
taz: Es sei nicht leicht, sich Ihnen nahe zu fühlen, hat Daniel Kehlmann, der Träger des Lübecker Thomas-Mann-Preises am Wochenende gesagt. Trifft Sie das, Herr Mann?
Thomas Mann: Der gute Dilettant! In uns Künstlern sieht es gründlich anders aus, als er mit seinem warmen Herzen und ehrlichen Enthusiasmus sich träumen mag.
Herr Kehlmann hat sich unter anderem auf die Schriftstellerin Susan Sontag bezogen, die nach einer Begegnung mit Ihnen sagte, Sie hätten nicht wie ein Buch, sondern wie eine Buchrezension geredet.
Alle Erkenntnis ist alt und langweilig. Sprechen Sie eine Wahrheit aus, an deren Eroberung und Besitz Sie vielleicht eine gewisse jugendliche Freude haben, und man wird Ihre ordinäre Aufgeklärtheit mit einem ganz kurzen Entlassen der Luft durch die Nase beantworten … Ein menschlicher Freund! Wollen Sie glauben, daß es mich stolz und glücklich machen würde, unter Menschen einen Freund zu besitzen? Aber bislang habe ich nur unter Dämonen, Kobolden, tiefen Unholden und erkenntnisstummen Gespenstern, das heißt: unter Literaten Freunde gehabt.
Nun wollen gleich zwei Städte, nämlich Lübeck und München, einen Thomas-
Mann-Preis vergeben. Freut Sie das?
Sehen Sie, zuweilen erhalte ich Briefe von fremder Hand, Lob- und Dankschreiben aus meinem Publikum, bewunderungsvolle Zuschriften ergriffener Leute. Ich lese diese Zuschriften und Rührung beschleicht mich angesichts des warmen und unbeholfenen menschlichen Gefühls, das meine Kunst hier bewirkt hat, eine Art von Mitleid fasst mich an gegenüber der begeisterten Naivität, die aus den Zeilen spricht.
So sehr naiv wirken die Deutsche Thomas Mann-Gesellschaft in Lübeck und die Bayerische Akademie der Künste in München eigentlich nicht. Lübeck will seinen prestigeträchtigen susan sontagPreis weiter allein vergeben und München will es sich nicht verbieten lassen, das Gleiche zu tun.
Ich bin ja München, wo ich die Hälfte meines Lebens verbrachte, von Herzen zugetan.
Obwohl es die Stadt war, aus der Sie vor den Nazis flohen?
Nie habe ich [der] Stadt gegrollt, auch zu Zeiten nicht, wo mir Böses kam von dort, denn ich wusste wohl, daß es nicht das wahre und eigentliche München, nicht sein ewiger, unzerstörbarer Genius loci war, von dem es mir kam.
Dort ist, wie der Präsident der Bayerischen Akademie beiläufig bemerkte, das Preisgeld ja auch 5.000 Euro höher.
Die Dinge so zu betrachten, hieße, sie zu genau betrachten.
Die Lübecker werden das ungern hören. Schließlich verleihen sie den Thomas-Mann-Preis schon seit 23 Jahren. Und Sie sind immerhin in Lübeck geboren.
So ist die Lebensform und Lebensauswirkung eines Lübeckers gemeint, des Lübeckers, der vor Ihnen spricht, der ein Künstler, ein Schriftsteller, ein Dichter, wenn Sie wollen, geworden, und als Künstler, als Schriftsteller, ein Lübecker geblieben ist.
Wie nun?
Es ist mein Ehrgeiz nachzuweisen, daß Lübeck als Stadt, als Stadtbild und Stadtcharakter, als Landschaft, Sprache, Architektur durchaus nicht nur in ,Buddenbrooks‘, deren unverleugneten Hintergrund es bildet, seine Rolle spielt, sondern daß es von Anfang bis zu Ende in meiner Schriftstellerei zu finden ist, sie entscheidend bestimmt und beherrscht.
Und dann gab es ja noch Ihr warmes Bekenntnis zu Travemünde, wo Sie Ihre Sommerurlaube verbracht haben.
In Travemünde, dem Ferienparadies, wo ich die unzweifelhaft glücklichsten Tage meines Lebens verbracht habe, Tage und Wochen, deren tiefe Befriedung und Wunschlosigkeit durch nichts Späteres in einem Leben, das ich heute nicht mehr arm nennen kann, zu übertreffen und in Vergessenheit zu bringen war, – an diesem Ort gingen das Meer und die Musik in meinem Herzen eine ideelle, eine Gefühlsverbindung für immer ein, und es ist etwas geworden aus dieser Gefühls- und Ideenverbindung-, nämlich Erzählung, epische Prosa.
Sind Sie eigentlich Opportunist? Noch gibt es ja keinen Mann-Preis der Stadt-Travemünde.
Man macht, was die Herkunft, die Miterscheinungen und Bedingungen des Künstlertums betrifft, immer wieder die merkwürdigsten Erfahrungen.
Die Münchner haben in ihrer Antwort auf die Lübecker Beschwerde vorgeschlagen, dass Zürich als die Stadt, wo Sie Ihre letzten Jahre verlebt haben, doch auch einen Mann-Preis vergeben solle.
[Die] altdeutsch-bürgerliche Stadt. Die prächtigen Auslagen. Erst jetzt werde ich recht gewahr, wie sehr doch dieses Jahrfünft, in das ja auch mein rührend begangener sechzigster fiel, mich dem Schweizer Leben, schweizerischer Landschaft, schweizerischer Menschlichkeit verbunden hat. INTERVIEW: FRIEDERIKE GRÄFF
Antworten unter Zuhilfenahme der Tagebücher, Briefe, Essays und von „Tonio Kröger“, erschienen bei Fischer Verlage.
Fotohinweis:THOMAS MANN, geb. 1875 in Lübeck, schrieb mit seiner rechten Hand (Foto) mehrere Romane, die später von Marcel Reich-Ranicki gelesen wurden. 1914 Umzug nach München. 1929 Nobelpreis. 1933 Beginn des Exils. 1952 Übersiedlung in die Schweiz. Foto: DPA