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Archiv-Artikel

Wilde Tiere schauen dich an

Verloren auf dem Ozean der Transzendenz: Für „Schiffbruch mit Tiger“ wurde Yann Martel im vergangenen Jahr mit dem Booker Prize ausgezeichnet. Nun ist der Roman auf Deutsch erschienen

von CARSTEN WÜRMANN

Wie immer wird zu viel verraten: „Schiffbruch mit Tiger“ verkündet der Titel, auf dem Umschlag ein Tiger und ein Junge in einem weißen Rettungsboot im blauen Meer in einem Schwarm von Fischen und Schildkröten. Als einzige Überlebende eines Schiffsuntergangs treiben sie auf dem Ozean, verkündet der Klappentext: „Eine wundersame abenteuerliche Odyssee beginnt.“ Zu viel versprochen ist das nicht. Yann Martels Roman ist wunderbar: witzig, berührend, grausam und spannend und wie jede gute Geschichte natürlich wahr, weil es gar nicht anders sein kann, weil es sonst nicht zu ertragen wäre. Aber das kommt alles später.

So viel Unendlichkeit

Am Anfang ist das Unglück fern, und ein Autor reist durch Indien, in einem Kaffeehaus verspricht ihm ein alter Herr mit schlohweißem Haar und strahlenden Augen eine Geschichte, die ihm den Glauben an Gott geben wird: die Geschichte von dem Jungen Pi Patel. Der Autor fürchtet einen obskuren Missionar und bleibt skeptisch, schreibt aber mit. Zurück in Toronto macht er diesen Patel wahrhaftig ausfindig, lernt ihn näher kennen und beginnt, sein Leben zu erzählen, „mit seiner eigenen Stimme, durch seine eigenen Augen gesehen“.

Pis Leben hat den Autor gepackt und Yann Martel uns: Ganz klassisch webt er sich in seinen Roman und verbürgt uns als vertrauenswürdiger Gewährsmann das weitere Geschehen. Wem sonst sollten wir glauben?

Pi erzählt von einer wunderschönen Kindheit in Pondicherry, in der er von seinem Vater, dem Besitzer eines Zoos, lernt, was die Kunst und die Wissenschaft eines guten Zoobetriebs ausmachen. Wie er, der nach dem Pariser Schwimmbad Piscine Molitor getauft wurde, sich gegen den Spott seiner Umwelt („Pisser“) mit Pi den Namen einer transzendenten Zahl gibt und gleichsam zum Schutz vor so viel Unendlichkeit zum gläubigen Hindu, Christen und Muslim wird.

Ein Gläubiger, der sich allerdings keine Illusionen macht: „Ich weiß, die Menschen mögen keine Zoos mehr. Und keine Religion.“ Einem Trugbild, einer falschen Idee von Freiheit seien beide zum Opfer gefallen. Doch jenseits der Zivilisation, in der Wildnis, herrscht ein unerbittliches System von Macht und Unterwerfung, und Pi hat leidvoll erfahren müssen, was von der menschlichen Freiheit bleibt, wenn man auf seine bloße Existenz zurückgeworfen ist.

Er wolle den Zoo nicht anpreisen, beteuert dieser seltsame Heilige in seinem kanadischen Vororthaus. Wir Leser aber sind nach dem ersten Drittel des Buches bereits halbwegs missioniert und zumindest bestens vorbereitet auf das Unglück, was da kommt. Nur gut, dass er es überstanden haben muss, da er ja als glücklicher Mann mit Frau, Sohn und Tochter vor uns steht.

1977 schifft sich seine Familie mit einem Teil ihrer Zootiere auf einem japanischen Frachter nach Kanada ein, im Pazifik sinkt das Schiff, Pi kann sich auf ein Rettungsboot flüchten, mit ihm ein verletztes Zebra, eine Tüpfelhyäne, ein Orang-Utan und ein bengalischer Tiger. Seekrankheit verzögert den Ausbruch blutiger Kämpfe, doch nach einigen Tagen sind Pi und der Tiger allein in dem 8 Meter langen Boot. Eine Arche als Gefängnis mit einem einzigen Tier als tödlicher Bedrohung, in den göttlichen Gefilden eines endlosen Ozeans. Eigentlich ist es hoffnungslos, aber Pi will überleben.

Martel gelingt das Kunststück und macht das Wunder wahr: Die unwahrscheinlichste Ausgangslage wird zu einer denkbaren, zur einzig vorstellbaren: Wer sonst, wenn nicht dieser Junge, sollte in der Lage sein, den Tiger zu zähmen und beider Überleben zu sichern. Pi, der Vegetarier, lernt zu töten, fängt Fische, schlachtet Schildkröten, gewinnt Trinkwasser mit Hilfe von Solardestillen.

Eine packender Abenteuerroman mit überraschenden Volten ist dieses dritte Buch des kanadischen Autors, für das er im Oktober 2002 mit dem renommiertesten englischen Literaturpreis, dem Booker Prize, ausgezeichnet wurde – und nicht zuletzt eine ergreifende Parabel über den Glauben und ein Hohelied auf die Macht des Erzählens.

Zurück im Dschungel

Nach 227 Tagen erreicht Pi die mexikanische Küste. Der Tiger verweigert jedes fabelhafte Einverständnis und verschwindet im Dschungel, Pi wird in ein Krankenhaus gebracht. Zwei japanische Regierungsbeamte, die die Ursache des Untergangs klären sollen, suchen ihn auf, hören seine Geschichte, wollen sie nicht glauben. Pi erzählt ihnen eine andere, entsetzliche, ohne Tiere. Beide müssen Pi zugestehen: Die Geschichte mit den Tieren ist die bessere.

Und nicht nur das, sie ist, wie Yann Martel in seinem Roman so eindrucksvoll erzählt, die einzig mögliche. Denn sonst bliebe nur unerträgliche Schuld. Wer wie Pi trotzdem weiterleben will, glaubt besser, wenn nicht an Gott, so an die Literatur, zumindest solange Tiger darin vorkommen.

Yann Martel: „Schiffbruch mit Tiger“. Roman. Aus dem kanadischen Englisch von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003, 384 S., 19,90 €