1903 – 2003: Hundert Jahre Müll

Müll kommt in die Tonne wie Strom aus der Dose. Aber wohin mit der Tonne? Ihre Entsorgung hat Geschichte: Vor hundert Jahren übernahm der Senat die Verantwortung über den „Unrat“ der Bremer. Eine Bremer Müllgeschichte ■ von Achim Saur

Im 19. Jahrhundert mühte sich Bremen nicht um neue Einwohner – die überfluteten die gemütliche Kleinstadt regelrecht. In nur 50 Jahren wuchs die Stadt von 50.000 auf 200.000 Seelen. Und mit den Bremer Bürgern wurde ihr Müll zu einem hochpolitischen Thema. 1854 hatte der Speditionsunternehmer Heichrich Alfes die Abfallbeseitigung als lukratives neues Geschäftsfeld entdeckt. Dreißig, vierzig Jahre später wuchs ihm das Problem über den Kopf. Der Streit tobte zwischen den Reinlichkeits- und den Gebührenvorstellungen der betuchten Bremer Bürger. Die Zeiten, in denen der „Schiet“ der Menschen in Holztonnen am Straßenrand stand und täglich in den stinkenden Pferdewagen zur Grube am Arster Damm gefahren wurde, sollten ihrem Ende zugehen: Im Jahre 1903 beschloss die Bremische Bürgerschaft, die Müllentsorgung als kommunale Aufgabe zu betrachten.

Der „größte anzunehmende Unfall“, der GAU der Hamburger Cholera-Epedemie, hatte die Diskussion beflügelt – eine Katastrophe, von der Bremen durch glückliche Umstände verschont geblieben war (vgl. nebenstehenden Text). Als der führende Bakteriologe seiner Zeit, Robert Koch, in höchster Not nach Hamburg gerufen wurde und die sanitären Verhältnisse in den Armenquartieren kennen lernte, rief er aus: „Meine Herren, ich vergesse, dass ich in Europa bin.“ Zahlreiche Aborte der Altstadt mündeten direkt in die Wasserläufe. Die ersten Anzeichen für die sich anbahnende Cholera-Seuche nahm der Hamburger Senat nicht ernst, er fürchtete bei Verhängung einer Quarantäne vor allem einen Stillstand im Hafen. Der Historiker Richard Evans attestiert der Stadt einen ignoranten Umgang mit der Epidemie. Bremen dagegen lobt Evans aufgrund seiner gründlichen Befolgung der aus der Reichshauptstadt eingegangenen Vorsorgemaßnahmen.

Auch in Bremen erhöhten die Auswanderer das Übertragungsrisiko. Der Bremer Senat hatte aber Cholera-Baracken errichtet, Desinfektionsapparate beschafft und noch vor den ersten Hamburger Infektionen eine Pressekampagne mit Verhaltensregeln gestartet. Ein genauerer Blick auf den Umgang Bremens mit seinen Gesundheitspolitikern zeigt, dass auch hier die bürgerschaftliche Sorge um die körperliche Unversehrtheit seiner Bewohner auf Grenzen stieß, wenn es ums Geld ging.

Fast ein halbes Jahrhundert hat Heinrich Alfes, Sohn eines Kleinbauern aus dem Umland, das private Entsorgungsgeschäft beherrscht. Gestartet war er 1954 als kleiner „Miethkutscher“, er hatte mit senatorischem Privileg und Investitionszuschüssen eines der größten Speditionsunternehmen der Stadt aufgebaut. Am Ende war er Besitzer einer einträglichen Reithalle im hochbürgerlichen Rembertiviertel und Teilhaber an der Bremer Pferdebahn AG.

Im Unterschied zu dem Hamburger Wasserwerk besaß das in Bremen von von Anfang an (1873) eine Filteranlage. Das hing aber vor allem damit zusammen, dass die privilegierten Bürger seinerzeit ein wohl schmeckendes Wasser verlangten. Sanitäre Motive konnten schon deshalb keine Rolle spielen, weil die Bakteriologie noch keine ausreichenden Erkenntnisse besaß. Nach einer glimpflich verlaufenden Cholera-Epidemie am Buntentorsteinweg – es gab 1866 nur wenige Opfer – forderte der Bremer „Verein für öffentliche Gesundheitsverhältnisse“ den Bau einer Kanalisation, die auch die Fäkalien aufnehmen sollte. Die „Schwemmkanalisation“ hätte eine Millioneninvestition bedeutet. Die bisherige Kanalisation nahm nur das Regenwasser auf und ähnelte nach Ansicht von Kritikern lang gezogenen „Mistgruben“. Die Lobby der Grundeigentümer, die in Hamburg die Filteranlagen des Wasserwerks erfolgreich bekämpft hatte, blockierte in Bremen das Kanalisationsprojekt.

So mussten die Bürger weiter den stinkenden „Unrat-Eimer“ auf den Straßen und Bürgersteigen ertragen. In diesem Behältnis befanden sich nicht allein die Haushaltsreste, sondern auch die Fäkalien aus den Aborten im Hof. Nur die wohlhabenden Bürger besaßen in ihren Häusern schon WCs, die in eine nur ein oder zwei Mal jährlich geleerte Senkgrube hinterm Haus entsorgten. Diese Gruben begannen aber aufgrund mangelnder Abdichtung zunehmend das Grundwasser zu verseuchen. Eine Untersuchung der bremischen Brunnen hatte 1872 die Schließung jeder fünften Wasserquelle zur Folge, Tyhus- wie Malariaerkrankungen nahmen hier ihren Ausgang.

Aber nicht die gesundheitlichen Risiken aus den Gruben waren verantwortlich für den Fortgang der Müll-Geschichte, sondern der Versuch, den Gestank aus den anstößigen „Eimern“ loszuwerden – ohne eine teure Kanalisation bauen zu müssen: Die Bürgerschaft verfügte 1890, dass alle Nutzer von schlichten Aborten ohne Grube sich eine verschlossene Tonne zur Aufnahme der Fäkalien anschaffen mussten.

Die neue Tonne sollte sich zum Debakel entwickeln. Die Bürgerschaft hatte sich für ein Sparmodell entschieden: Die Tonne musste nur aus Holz sein, nicht aus dem teureren Zinn. Die Sparren der Tonnen verzogen sich aber, bei ihrem Abtransport schwappte der stinkende Inhalt aus dem Gefäß. Bei Annäherung der penetrant stinkenden Pferdewagen wechselten die Passanten panisch die Straßenseite. Hauptopfer waren die Bewohner des Buntentors, wo die Fahrzeuge auf dem Weg zum Arster „Endlager“ im Viertelstundentakt vorüberrumpelten. Die dortige Arster „Poudrette-Fabrik“ verarbeitete die Fäkalien zu Dünger und verbreitete Dunstschwaden. Aber erst als die Fabrik aufgrund der Konkurrenz des Chemie-Düngers vor dem Aus stand und der private Entsorgungsunternehmer seine Kostenforderungen immer weiter in die Höhe schraubte, begann wieder das Nachdenken über die „Schwemmkanalisation“ – und eine Kommunalisierung der Stadtreinigung.

Die Kommunalisierungsdebatte führte 1898 alle auch heute bekannten Argumente pro und contra Kommunalbetrieb auf. Die Befürworter der Kommunalisierung gingen von Schlampereien des Privaten aus, ein Unternehmer „verdiene nicht daran, was er tue, sondern was er nicht tue.“ Die Privatisierungsfraktion warnte vor einem „Heer von Beamten“. Das Debakel mit den Tonnen führte aber dazu, dass die Weichen doch klar in Richtung Kommunalisierung der Stadtreinigung und Kanalsystem gestellt wurden. Ausschlaggebend waren aber nicht die medizinischen Warnungen. Es war der bürgerliche Missmut über den Gestank auf ihren Straßen sowie die steigenden Tonnen-Gebühren. Für den Bau der lange bekämpften „Schwemmkanalisation“ nahm der Senat eine Millionenanleihe auf und gewährte den Hausbesitzern Darlehen für die Herstellung ihrer Hausanschlüsse. Zum 1. April 1903 wurde die Stadt- und Straßenreinigung zudem „kommunale Dienstleistung“.

Damit hatte Bremen den letzten Baustein im Rahmen städtischer Betriebe gesetzt, nach Gas-, Wasser- und Elektrizitätswerk sowie Schlachthof. Auch in Bremen hatte der „Munizipalsozialismus“ seine Gestalt gewonnen. Erst im Zeichen leerer Kassen begann knapp hundert Jahre später wieder die Debatte zur Privatisierung der kommunalen Dienstleistungen.

Das von Achim Saur zusammengetragene Jubiläums-Buch (Schutzgebühr 20 Euro) ist bei den BEB oder beim Brodelpott zu haben. Für den März ist eine Ausstellung über den „Aufstieg des Abfalls“ geplant.