: Dämmriges Gelenk in der Zimmerflucht
Das „Berliner Zimmer“ war früher die Verbindung zwischen Vorderhaus und Seitenflügel. Heute dient es als Wohnküche oder Gemeinschaftsraum
von MICHAEL KASISKE
„Was soll denn das sein?“, entfuhr es ihm leicht genervt. Dabei hatte ich lediglich von dem 24-jährigen Berliner wissen wollen, was ein „Berliner Zimmer“ sei, und als er zerstreut mit dem Kopf schüttelte, noch einmal nachgehakt. Ein „Born and Bread“ dieser Stadt fühlte sich indes von einem Zugezogenen hochgenommen, als sei er nach „Berlinern“ gefragt worden, die hier doch Krapfen heißen. Doch das Berliner Zimmer gehört in die hiesige Wohnlandschaft – als Verbindungsraum zwischen Vorderhaus und Seitenflügel.
Die Reaktion des eineinhalb Jahrzehnt Jüngeren bestätigte mich in meiner Ansicht, dass dieser Raum etwas Gestriges darstellt. Eine Erinnerung an das düstere, piefige Nachkriegsberlin kommt hoch, dessen letzte Spuren ich ab Mitte der 1980er-Jahre kennen lernte. „Berliner Zimmer, dämmriges Gelenk in der lichten Zimmerflucht … Bedenkzelle zwischen lauter Zimmern“, charakterisierte Ingeborg Bachmann denn auch den besonderen Raum bürgerlicher Wohnkultur, als sie 1965 ihren Essay „Berlin – Ein Ort für Zufälle“ verfasste.
Die damalige Eigenschaft der Stadt Berlin, die Zeit vergehen zu lassen, die Dinge der Vergangenheit selbst jedoch zu konservieren, lässt sich ebenfalls auf das „Berliner Zimmer“ beziehen. Ursprünglich entstammt die Grundrissdisposition dem Wohnungsbau für das Bürgertum im 19. Jahrhundert. Der Raum bildete den Übergang zwischen den repräsentativen Räumen im Vorderhaus und den Privat- und Wirtschaftsräumen im Seitenflügel. Im vorderen Teil lag, zur Straße orientiert, gleich neben der Eingangstür, das Empfangszimmer des Herrn, daneben dann der Salon der Dame. Auf der anderen Seite der Eingangstür, zum Hinterhof orientiert, befand sich ein Wohnzimmer, wo sich die Dame des Hauses und das Hausmädchen bei Handarbeiten aufhielten. Hier war kein Besuch zugelassen, wohl aber im anschließenden Berliner Zimmer, das üblicherweise als Esszimmer diente. Dass das Fenster in der Ecke nur den Ausblick auf einen Hinterhof bot, störte nicht, schließlich sollten sich die Gäste beim Speisen auf die Tafel schauen. Im Seitenflügel reihten sich an einem Flur entlang der Brandmauer Küche und Anrichte mit dem so genannten Brötchenaufgang, das zweite Treppenhaus für die Lieferanten. Dahinter lagen dann die Räume für das zwanglose Wohnen, die – was heute leider nur noch selten erhalten ist – mit einer verglasten Veranda an der Stirnseite des Seitenflügels ihren Abschluss fanden.
Das Bürgertum fasste nach dem Krieg nicht mehr Fuß, und die großen Wohnungen wurden – wegen der vielen Flüchtlinge – aufgeteilt. Die Schriftstellerin Anna Jonas berichtet in „Zwischen Stube und Wohnung“ über die Gepflogenheiten der Unterkünfte während ihrer Zeit als Studentin Ende der 1960er-Jahre: „Das Berliner Zimmer vermietete Frau Berghold. Im Berliner Zimmer, das nur ein Fenster in der Ecke hat, sodass der größte Teil des Zimmers in ständigem Dämmerlicht liegt, wohnte Frau Rauzek. Hinter dem Berliner Zimmer lag noch ein Bad mit Toilette, das war an Frau Rauzek mitvermietet. Frau Berghold wusch sich in der Küche. Ich musste mich in meinem Zimmer in einer Waschschüssel waschen.“ Der Muff saß halt nicht nur unter den Talaren.
Im Arbeiterwohnungsbau existierten der Lage nach ebenfalls die Berliner Zimmer, nur dass sie hier nicht mehr einen Verbindungsraum darstellten, sondern den Hauptraum. Von der Fläche groß, von der natürlichen Belichtung und damit auch Belüftung freilich weitgehend abgeschlossen, verkehrten sich die in den bürgerlichen Haushalten zuweilen sehr geräumigen Esssäle in überhitzte und überfüllte Löcher, die zu Berlins Ruf als unhygienische Mietskasernenstadt beitrugen.
In den nachfolgenden Ären des Reformwohnungsbaus gab es dann auch kein Berliner Zimmer mehr. Mit der veränderten städtebaulichen Figuration – gemäß der Forderung nach Licht, Luft und Sonne für alle – entfielen die engen Höfe und mit ihnen die berüchtigte Ecklösung. Doch obwohl Siedlungen jener Zeit, wie das Hufeisen in Britz, heute weltberühmt sind, das Image von Berlin prägt die Gründerzeit. Und gerade in der gegenwärtigen Situation des Wohnungsüberflusses trifft die Feststellung der Schriftstellerin Christa Reinig in der Erzählung „Ein stecken gebliebener Umzug“ erneut zu: „Die Wohnungen in Berlin sind billig zu haben. Sie sind geräumig, schön verputzt und echtes Alt-Berlin mit dem berühmten Berliner Zimmer in der Mitte aller Räume.“
Diese zentrale Lage machen sich die heutigen Bewohner zunutze. Manche haben erkannt, dass die Kochküchen an den früheren Essraum angrenzen und somit ausreichend Versorgungsleitungen vorhanden sind, um ihn kurzerhand in eine geräumige Wohnküche umzuwandeln. In Wohngemeinschaften befindet sich hier in der Regel der Gemeinschaftsraum, das liegt wegen der Größe und der Unabhängigkeit vom natürlichen Licht auf der Hand, man trifft sich ohnehin meistens erst dann, wenn es draußen dunkel geworden ist.
Nur spricht heute niemand mehr vom Berliner Zimmer. Es ist beim Wandel der Stadt untergegangen, als sich die vom Krieg geprägten Generationen verabschiedeten und gleichzeitig ein zweites Mal „Großberlin“ gebildet wurde. Eine Rückkehr, die Christa Reinig den Westberlinern lange vorher ins Stammbuch geschrieben hatte: „Westberlin war gar nicht West. Es gab nichts, auf das man zeigen konnte und sagen: Sieh mal, so ist es in München, in Hamburg, in Paris. Westberlin hatte mit nichts Ähnlichkeit als mit Ostberlin. Rückkehr nach Berlin hieß Rückkehr in den Osten.“
Heute nennt sich eine Internetplattform, das die Tradition eines literarischen Salons fortführen möchte, vergangenheitheischend „Berliner Zimmer“. Und ich kann unwissenden Jungberlinern im meiner Wohnung nur noch ein amputiertes Exemplar zeigen, ist bei mir doch der Teil im Seitenflügel abgeschnitten. Auch die lange goldgelbe Wand lässt nicht mehr an die Dämmerstube von einst denken.