: Letzter Halt vor Sardinien
Genua ist mehr als nur ein Fährhafen für Durchreisende auf dem Weg in die Ferien. Ein Besuch der in diesem Jahr zur Kulturhauptstadt Europas ernannten Stadt lohnt nicht nur wegen der guten Küche
von MANFRED MAIER
Wie Lemminge ziehen hunderttausende Touristen aus dem Norden über das gewundene Asphaltband der Autobahn Richtung Genua. Bezahlen an der Ausfahrt eine gesalzene Mautgebühr, folgen gespannt und erkennbar hektisch der nur in italienisch ausgeschilderten Straßenführung Richtung Traghetti (Fähren).
Endlich im Hafen angekommen, erwarten bereits riesige Fähren mit weit geöffneten Rachen ihre urlaubshungrige Fracht. Die Klappe zu, und los geht es Richtung erträumten, weit entfernten Traumstrand. Das Urlaubsende bildet ein ähnliches Bild, diesmal in umgekehrter Richtung.
Genua, die Unverstandene, Genua, Neapel des Nordens, Genua als ein paar problematisch ausgeschilderte Straßenkreuzungen. Wer die Stadt in dieser Form wahrnimmt, bringt sich um faszinierende, einzigartige Eindrücke, um eine Kultur, die sich nicht in kommunaler Monumentalarchitektur präsentiert, sondern eher Ausdruck eines unermesslichen Reichtums weniger Familien, mehr oder weniger geschmackvollem Geprotze ehemals neureicher Kaufleute manifestiert. Die Altstadt, ein Sammelsurium von Familienpalästen auf kleinsten Plätzen, enge Gassen, morbider Charme neben erlesenem Prunk.
Genua, Ausfalltor in alle Erdteile, ehemals mächtige Konkurrentin von Venedig und Pisa. Zurzeit der Kreuzzüge begann auch der rasante Aufstieg Genuas zur (Wirtschafts-)Macht, welche um 1300 ihren Höhepunkt erlebte. Nur Venedig konnte noch einigermaßen mithalten, Pisa war endgültig besiegt. Ihr Einfluss erstreckte sich bis nach Kleinasien und zum Schwarzen Meer, überall entstanden Handelsniederlassungen und Kolonien. Unentwegt landeten Schiffe an, zielsicher in den Hafen geleitet von Genuas Wahrzeichen, dem 117 Meter hohen Leuchtturm, La Lanterna. Beladen mit feinster Baumwolle, Gewürzen aus dem Orient, Seide aus China. Sie begründeten die Macht, den Reichtum und den Glanz dieser Hafenstadt.
Doch es gab auch den umgekehrten Weg: Hunderttausende, wenn nicht Millionen Armutsemigranten haben hier die Schiffe bestiegen, welche sie in die neue Welt, in eine bessere, menschenwürdigere Zukunft bringen sollten. War es doch auch ein Sohn der Stadt, Christopher Columbus, der im Auftrag der spanischen Krone die neue Welt entdeckte. Garibaldi schiffte sich hier im Stadtteil Quarto mit tausend Mann Richtung Sizilien ein, um Italien zu vereinen. Der Stadtteil heißt seitdem Quarto dei Mille (tausend) in Anspielung und Erinnerung an diese Expedition.
Heute treffen Sie in der größten Altstadt Europas ein Vielvölkergemisch, in den engen Gassen, in denen man sich ohne Stadtplan in kurzer Zeit hoffnungslos verirrt, vermischt sich das Wolof der Senegalesen, das aberwitzig schnell gesprochene Spanisch der Ecuadorianer mit dem auch für den Rest Italiens unverständlichen Dialekt der Napoletaner. Verkaufsstände in den engen Gassen bieten von der Wurzel, die entwurmt, bis zur Knolle, welche enthemmt, so ziemlich alles an. Der afrikanische Friseursalon neben dem schicken Designermodengeschäft ist der Normalfall.
Dass Genua in diesem Jahr gemeinsam mit dem französischen Lille Kulturhauptstadt Europas ist, hat die bunte Kunstszene in Schwung gebracht. Kunstliebhaber finden in Genua darüber hinaus mittelalterliche Kirchen und Plätze, Barockpaläste sowie bedeutende Gemälde in Museen.
Unzählige Kneipen und Bars bieten außerdem jede Art von Unterhaltung an, Damen jeden Alters offerieren ihre Dienste nicht nur dem vierzigjährigen Italiener, der noch bei der Mama wohnt – eine Lebensform, im Norden als „Hotel Mama“ bekannt. Die Italiener nennen diese großen Jungs, die sich standhaft weigern, selbsttändig zu werden, liebevoll Mammone (großes Muttersöhnchen in etwa).
Die Genuesen haben zu ihrer Altstadt kein ganz eindeutiges Verhältnis. Während ein Teil die feste Ansicht vertritt, man könne nur in der Altstadt leben, lehnt der andere Teil diese Vorstellung entschieden ab, ist überzeugt, hier könne man keinesfalls wohnen.
Die Altstadt fasziniert so oder so mit ihrer Atmosphäre. Durch die engen, verwinkelten Gassen spazieren, die kunstvoll bearbeiteten Reliefs der Eingangsportale betrachten, einen Kaffee trinken, am von dem bekannten Architekten Renzo Piano gestalteten Hafengelände, ein wenig Meeresluft schnuppern, das Acquario besuchen (Europas größter Meerwasserzoo), mit einem der zahlreichen Ausflugsschiffe auf Hafenrundfahrt.
Direkt am Meer verläuft die schöne Passeggiata al mare, ein bequemer Weg von beträchtlicher Länge. Immer wieder gibt es Abgänge zum Wasser, wo auch in der Hochsaison immer ein ruhiger Badeplatz auf Sonnenhungrige wartet. Die Wasserqualität des Meeres ist ausgezeichnet. Entlang der Passaggiata finden sich jede Menge Strandbars, wo sich der kleine Hunger und Durst bei atemberaubender Meeressicht stillen lassen.
Die auf der Landseite an die Passeggiata angrenzenden Parks Serra, Gropallo und Grimaldi beherbergen zahlreiche exotische Pflanzen, wunderschöne, uralte Bäume und natürlich Palmen. Hier kann man sich von der lauten und lebhaften Stadt sehr gut erholen.
Der prächtige Badeort Nervi ist seit 1926 ein Stadtteil Genuas, hat jedoch seinen eigenständigen Charakter nie verloren. Um 1910 kam Nervi zuerst bei wohlhabenden Deutschen, dann auch bei den Engländern als angenehmer Überwinterungsort in Mode. Mächtige Villen und Gartenanlagen geben noch heute einen Eindruck davon, was unter großbürgerlichen Ferien am Anfang des letzten Jahrhunderts verstanden wurde.
Italien wie aus dem Bilderbuch, Geschichten längst vergangener, verloren geglaubter Zeiten werden im Gasthaus von Maria Manté wach. Seit 57 Jahren führt Maria dieses Lokal, längst eine Institution und völlig zu Recht ein Mythos. Die typische Trattoria ist in mehrere Räume gegliedert und bietet sicher hundert Gästen Platz. Beim Eingang stauen sich die Hungrigen, warten sehnlichst auf einen frei werdenden Platz. Hier speisen Studenten, Arbeiter, Intellektuelle und Künstler, ein buntes Volk, viele seit Jahren Stammgäste, um Marias köstliche hausgemachte Ravioli mit Sugo oder ein perfektes Cima alla Genovese (gefüllte Kalbsbrust), den hier typischen Stoccafisso oder Carciofi ripieni (gefüllte Artischocken) zu probieren.
Eine stattliche Anzahl handbeschriebener Kartonschilder hängt neben der Ausschank und gibt Auskunft über das Speisenangebot. Gibt es am späteren Abend ein Gericht nicht mehr, verschwindet das entsprechende Schild kurzerhand in einer Schublade.
Glücklich und mit vollem Magen bezahlt man beim Gehen am Ausschank, hinter der Maria routiniert und unauffällig das bunte Treiben beobachtet, die Rechnungen macht. Und erlebt die nächste angenehme Überraschung, wenn Maria mit ihrem charmantesten Lächeln den günstigen Preis nennt. (Trattoria da Maria, Vico Testadoro 14r., Samstag den ganzen Tag und Montagabends geschlossen.)
Sehr gut essen kann man auch in dem gutbürgerlichen Restaurant da Rina, Via Mura della Grazie 3r (Montag Ruhetag). Die über achtzigjährige Wirtin hat schon viel Prominenz in ihrem Lokal begrüßt, unzählige Fotos an den Wänden legen davon Zeugnis ab. Ausgezeichnete Taglierini in einer Sauce aus Scampi und Bohnen, sensationelle Fischravioli, eine reiche Auswahl an Fischgerichten sowie sehr gute Desserts lassen es an nichts fehlen.
Die Genuesen pflegen ein inniges Verhältnis zum Aperitif. Das Ansehen einer Bar steigt mit der Vielzahl von Häppchen, fast immer in ausgezeichneter Qualität, welche zum Getränk gereicht werden. Nebst kleinen Brötchen, belegt mit Rohschinken, Salami, bestrichen mit Thonpaste, gibt es Farinatastücke (Fladen aus Kichererbsenbrei), kleine Pizzas, nicht selten ein Schälchen Pasta. Durchschnittsesser laufen hier sehr schnell in Gefahr, bereits ziemlich satt die Aperitifbar zu verlassen.
Wer sich entschließt, der Stadt während des Jahreswechsels einen Besuch abzustatten, sollte nicht nach Mitternacht durch die Gassen spazieren. Obwohl längst per Gesetz verboten, pflegen viele Napoletaner einen lieb gewonnen Brauch. Nämlich nach Mitternacht alle Gegenstände, die man sich vorgenommen hat, im Neuen Jahr zu ersetzen, aus dem Fenster zu werfen. Im harmlosesten Fall finden Sie sich in einem Regen von leeren Flaschen wieder. Es werden allerdings auch immer wieder fliegende Kühlschränke, Schreibmaschinen, Fernseher und diverses Mobiliar gesichtet.
Hotels: Jolly Hotel direkt an der Hafenmole, alle Zimmer mit Aussicht auf den Hafen, Molo Ponte Calvi 5, Tel. (00 39) 01 02 53 91, Fax (00 39) 01 02 51 13 20, E-Mail: genova_marina@jollyhotel.it, DZ 200 € inkl. FrühstückCairoli (mitten in der Altstadt, nur 12 Zi.) Tel. (00 39) 01 02 46 14 54, Fax (00 39) 01 02 46 75 12, DZ 73 € inkl. Frühstück